9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.06.2024 - Europa

Die extreme Rechte wird bei der Europawahl an Stimmen zulegen, ist aber zu gespalten, um daraus Kapital zu schlagen, prognostiziert der niederländische Populismusforscher Cas Mudde im Guardian. Grund zur Entwarnung gibt es allerdings keineswegs, "denn die Europäische Volkspartei (EVP, zu der Parteien wie die deutsche CDU/CSU und die Volkspartei (PP) Spaniens gehören) könnte möglicherweise mit der kombinierten extremen Rechten eine Mehrheit bilden, befürchtet Mudde: "Dies wäre schwierig zu organisieren, aber die Rechte der EVP könnte es dennoch nutzen, um Sozialisten und liberale Europaabgeordnete dazu zu bringen, radikalere Maßnahmen zu Themen wie dem europäischen Green Deal und Einwanderung zu akzeptieren - Themen, die im Mittelpunkt der EVP-Kampagne stehen. (…) Folglich wird das neue Machtzentrum nicht so sehr die extreme Rechte sein, sei es ECR oder ID, sondern die extreme Rechte der EVP, die die Gefahr einer rechten Mehrheit ausnutzen wird, um insbesondere ihre traditionellen Koalitionspartner weiter nach rechts zu drängen zu Themen wie Umwelt, Geschlecht und Sexualität und natürlich Einwanderung."
Stichwörter: Mudde, Cas, Europawahlen 2024

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.06.2024 - Europa

Mehr als ein paar inhaltslose Zeilen sind dem belarussischen Friedensnobelpreisträgers Ales Bjaljazki, der 2023 in einem Schauprozess zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, nicht gestattet, erzählt dessen Ehefrau Natalia Pinchuk im Videochat mit Uli Kreikebaum (FR), in dem sie Europa auffordert, Belarus nicht zu vergessen: "'Europa muss begreifen, dass Belarus ein Schlüssel zum Frieden in Europa ist. Belarus ist ein Vorposten Europas an der Grenze zu Russland.' Es sei fatal, dass Belarus aus dem öffentlichen Blickfeld weitgehend verschwunden sei. Pinchuks Informationen nach werden in ihrem Heimatland täglich zehn bis 15 Menschen verhaftet, weil das Regime noch vier Jahre nach der friedlichen Revolutionsbewegung Demonstrant:innen von damals mit Hilfe von Gesichtserkennungs-Software identifiziere - und willkürlich festnehme. Ob es sinnvoll wäre, wie gegen Russlands Präsidenten Vladimir Putin auch gegen den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko ein Strafverfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anzustrengen? Den Warenhandel von Belarus über EU-Länder nach Russland zu stoppen? Natalia Pinchuk möchte nicht direkt darauf antworten. Sie sagt: 'Es müssen alle notwendigen Einzelmaßnahmen getroffen werden.'"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.06.2024 - Europa

In der NZZ fragt sich die Wiener Russlandexpertin Anna Schor-Tschudnowskaja, ob zwischen den Inszenierungen auf dem Roten Platz der Sowjetunion und der des heutigen Russlands zum 9. Mai überhaupt noch eine Ähnlichkeit besteht. "Die zynischen mafiaartigen Clans an der Staatsspitze, die grenzenlose Geldgier der Bürokraten, die eklatanten sozialen Ungleichheiten in einer boomenden Konsumgesellschaft, eine riesige mediale Unterhaltungsindustrie und eine geschickt mit der neuesten Technik hantierende Jugend, die den neuesten globalen Trends in Kosmetik, Kleidung und Musik nachjagt - nichts davon erinnert an die Sowjetunion. Umso befremdlicher wirkt die eigenartige militaristische Verzahnung des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen bei der diesjährigen Parade auf dem Roten Platz. Neben beispiellosen Sicherheitsvorkehrungen in Moskau fiel auf, dass die Vorführung von Militärtechnik drastisch verringert wurde. (...) Diese eigenartige Absenz von Militärtechnik vermittelte zugleich - gewollt oder ungewollt - eine Botschaft: Die Parade soll auch und gerade als Teil des laufenden Krieges gegen die Ukraine verstanden werden. Sie ist schon längst keine reine Gedenkveranstaltung mehr, sondern Teil der Realität. Das seinerzeitige Heldentum des Sowjetvolkes wird jetzt vom russischen Volke fortgeschrieben."

Das neue EU-Parlament, das demnächst gewählt wird, könnte von der Anti-Klimabewegung geprägt werden, warnt Barbara Junge in der taz. "Das Pendel ist zurückgeschlagen. Die Anti-Klimaschutz-Bewegung ist groß, sie ist grenzüberschreitend und sie wird mutmaßlich das neue Europaparlament aggressiv dominieren. ... Die rechtsextreme Erzählung von der 'Großen Transformation', einem kosmopolitischen Elitenprojekt, das dem Volk fossilen Wohlstand und kulturelle Identität stehlen will, ist ein Angebot an echte oder vermeintliche Transformationsverliererinnen und an jene, die dem 'grünen' Projekt nicht trauen. Und das Narrativ greift umso besser, je konsequenter der Klimaschutz umgesetzt wird. Das haben auch die Parteien von konservativ bis, ja, grün längst begriffen. Aus Angst vor der Mobilisierungsmacht der Bauern wurden klimapolitische EU-Gesetze wie das zur Renaturierung gestutzt. Die europäischen Konservativen versprechen, Klimaschutz nach den EU-Wahlen zurückzufahren."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.06.2024 - Europa

Die Ukraine darf jetzt auch auf russischem Gebiet amerikanische und westliche Waffen einsetzen. Nachdem Joe Biden die Erlaubnis erteilte, zog die Bundesregierung nach - endlich, ruft Jörg Lau auf Zeit Online. Warum musste die Ukraine monatelang vor der Regierung zu Kreuze kriechen bis diese Entscheidung getroffen wurde, fragt Lau und fordert: "Der Westen muss aufhören, sich von Russland treiben zu lassen. Es konnte zuletzt der Eindruck entstehen, dass die USA und Deutschland, die beiden wichtigsten Unterstützer, einen ukrainischen Erfolg fast noch mehr fürchten als einen russischen Sieg - wegen Putins Nukleardrohungen. Diese Drohungen sind skandalös. Sie sind ernst zu nehmen. Es muss ihnen vereint und mit Festigkeit entgegengetreten werden. Aber die Angst vor der Eskalation zum Maßstab des eigenen Handelns zu machen, wirkt paradoxerweise ebenfalls eskalatorisch, weil der Gegner sich dann allzu sicher fühlen kann."

In der SZ outet sich Kurt Kister als "Begeisterungseuropäer". Er rät dazu, nicht völlig dem Fatalismus anheim zu fallen und sich in Erinnerung zu rufen, welche Errungenschaften Europa zu verzeichnen hat - vor allem im Vergleich mit düstereren Zeiten: "'Europa' war und ist mit dem Begriff Freiheit verbunden. Diese Hoffnung blieb trotz aller Rückschläge erhalten, die europäische Freiheit ist attraktiv bis heute. Der Wunsch nach Freiheit, danach ein Teil dieses Europas zu sein, setzte den Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland ein Ende. Derselbe Wunsch trug auch 1989/91 die Revolutionen vom Baltikum bis ans Schwarze Meer. Und die vielen, die sich aus dem Süden und aus dem Osten auf den Weg nach Europa machten und machen, suchen eben jene Freiheit, zu der Sicherheit gehört. Europa zieht immer noch Menschen an - nicht in erster Linie, weil sie dort finanzielle Unterstützung suchen, sondern weil sie frei leben wollen, und sicher auch besser als dort, wo sie herkommen. Wäre Europa 'gescheitert', wie das alte und neue Nationalisten behaupten, dann würden nicht immer noch Staaten dem organisierten Europa beitreten wollen, und es würde keine Migrationsbewegung dorthin geben."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.05.2024 - Europa

Im Dezember erhielt Georgien den Status eines Beitrittskandidaten der EU, dann qualifizierte man sich noch für die EM - Georgien schien auf dem besten Weg Richtung Europa zu sein, erinnert sich die georgische Schriftstellerin Tamta Melaschwili in der SZ. Nun ist das umstrittene Gesetz zu "ausländischen Agenten" verabschiedet (Unsere Resümees und hier die Tagesschau Meldung). "Iwanischwili und der Georgische Traum strebten einen Umsturz 'von oben' an. ... Denn nach der georgischen Verfassung ist Zensur verboten und der außenpolitische Kurs eindeutig europaorientiert. Ungeachtet aller innenpolitischen Gegensätze herrschte darüber seit der Unabhängigkeit Georgiens 1991 immer Einigkeit. Der Weg nach Europa war das, was uns einte. Deshalb setzt der Georgische Traum nicht nur die Zukunft des Landes aufs Spiel, er unterhöhlt den einzigen gesellschaftlichen Konsens, den es gibt. Die Europäische Union hat klargemacht, dass dieses Gesetz ein ernsthaftes Hindernis für den EU-Beitritt darstellt. Dabei ist eine Zukunft in Europa keine fixe Idee, es geht nicht allein um die Mitgliedschaft, sondern um eine Befreiung von Russland, um eine Zukunft Georgiens als Kontinuum und autonomes Land. Deshalb kann der Georgische Traum auch nicht zugeben, dass er nicht nach Europa will. Wir wollen es, heißt es aus der Partei, aber sie tut das Gegenteil. Ihren Worten ist nicht zu trauen. Und wir trauen ihnen nicht."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.05.2024 - Europa

Nach der Wiedervereinigung hätte er eine Neukonstituierung der Verfassung durchaus begrüßt, heute aber wäre sie unsinnig, schreibt in der FAZ der Rechtswissenschaftler Dieter Grimm, denn das Grundgesetz "ist in keiner Weise veraltet. Es hat sich vielmehr durch Verfassungsänderungen und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf der Höhe der Zeit gehalten. Auch Antworten auf den Druck, unter dem derzeit die parlamentarische Demokratie steht, würden keine neue Verfassung nötig machen. Als Rechtfertigung einer Neukonstituierung bleiben also allein östliche und westliche Befindlichkeiten, die mit der Verfassung aber nur sehr locker verknüpft sind. Käme es zu einer Neukonstituierung ohne zwingenden verfassungsrechtlichen Grund und ohne den 'Schleier der Ungewissheit' eines Neuanfangs, stünde zu befürchten, dass allerlei Begehrlichkeiten geweckt würden und die Verfassung aufblähten. Am Ende wäre die Entfremdung nicht überwunden, aber die Verfassung verschlechtert."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.05.2024 - Europa

Im Krieg ist man, wenn man durch den Feind zur Kriegspartei erklärt wird. Die Behauptung von Olaf Scholz, man tue alles, um nicht Kriegspartei zu werden, ist darum Augenwischerei, schreibt Richard Herzinger in einem Essay für die Zeitschrift Internationale Politik. "Wie wenig sich ... die deutsche Öffentlichkeit der existenziellen Bedrohung durch die russische Aggression nach wie vor bewusst ist, zeigt sich daran, dass dieses Thema im aktuellen Wahlkampf zur bevorstehenden Europawahl auf gespenstische Weise abwesend ist. Die demokratischen Parteien überlassen es weitgehend der 'Friedens'-Demagogie der kremlhörigen Gruppierungen von rechts und links, die den Westen einseitig entwaffnen wollen. Und dabei nicht ohne Wirkung bleiben."

Hier noch ein wunderbarer Tweet zu den kommenden Wahlkämpfen:


Die in Wien lebende slowakische Schriftstellerin Susanne Gregor sendet der NZZ ein Stimmungsbild aus der Slowakei, die schon vor dem Attentat auf Robert Fico tief gespalten war: "In ein 'wir' und ein 'sie', in die 'Guten' und die 'Bösen', die 'guten traditionellen Leute auf dem Land' und die 'bösen Liberalen in den Großstädten', in die 'Arbeiterklasse' und die 'entrückte Bratislava-Kaffeehaus-Elite', in die Verschwörungstheoretiker und die Aufgeklärten, in jene, die nach Osten zum großen Bruder Russland blicken, und jene, die sich nach Westen hin und an europäischen Werten orientieren. So verlor sich das Land auf der Suche nach einer eigenen Identität. Es entstand eine Spannung, die nicht bloß ideologisch, sondern auch emotional aufgeladen ist. Ficos autokratische Tendenzen werden weitherum durchaus begrüßt. Denn während man sich vor dreißig Jahren noch einig war, dass die Demokratie das beste politische System sei und lebenswerter als eine Diktatur, so herrscht heute eine große Ernüchterung vor über die chaotische Regierungsführung der letzten Jahre. Die Bürger bringen die Krisen der jüngsten Vergangenheit mit einem Versagen der Demokratie als System in Verbindung und sehen sich nach Alternativen um."

Heute vor fünfzig Jahren ereignete sich der Anschlag von Brescia, eines der blutigsten neofaschistischen Attentate in Italiens Nachkriegsgeschichte. Der Historiker Davide Conti erinnert im Tagesspiegel-Gespräch nicht nur an die Hintergründe, sondern sieht auch eine direkte Linie zwischen Giorgio Almirante, dem Parteichef der neofaschistischen MSI und Giorgia Meloni: "Es gibt den Faschismus nicht mehr wie einst, aber er kann weiter operieren. Man macht weiter entsprechend Politik, nur eben nicht mit dem Schlagstock und im Schwarzhemd. (…) Meloni plant eine tiefgreifende Änderung der republikanischen Verfassung. Denn der Postfaschismus hat sie nie akzeptiert. Meloni nennt diesen Umbau 'die Mutter aller Reformen', damit steht sie in einer Linie mit Almirante. Der forderte in jeder Legislaturperiode, die er im Parlament saß, also bis 1988, eine Präsidialverfassung. Nur dass anstelle des starken Manns jetzt eine starke Frau stehen und die Rolle der Premierministerin statt des Staatsoberhaupts gestärkt werden soll."

Sieben Menschen wurde beim russischen Angriff auf die Druckerei des Vivat-Verlags in Charkiw getötet, zwanzig verletzt. Zudem wurden 55.000 Bücher vernichtet, berichtet Sonja Zekri, die für die SZ mit der Verlegerin des Verlags, Julia Orlowa gesprochen hat: "Für die Ukraine ist die Zerstörung eine Katastrophe. Hier wurden nicht nur unsere Bücher gedruckt, sondern die Hälfte aller Bücher der Ukraine, dazu übrigens auch Bücher für den deutschen Markt. Die Druckerei ist fünfzig Jahre alt. (…) Dieser Angriff war ein Verbrechen an unserer Nation, an unserer Kultur. Die Toten bringt niemand zurück, so furchtbar das ist. Aber wir müssen wieder Bücher drucken, sonst wäre es das Ende unserer Entwicklung."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.05.2024 - Europa

Maximilian Krah und seine AfD haben sich im Blick auf Europa total verrechnet - darum sind die anderen rechtpopulistischen Parteien Europas von der Partei abgerückt. Da die AfD nicht mehr Mitglied in der entsprechenden Fraktion des EU-Parlaments sein wird, bedeutet das einen erheblichen Einflussverlust. Die deutsche Geschichte, die von der AfD so gern als "Vogelschiss" verharmlost wird, hat ihr eine Falle gestellt, kommentiert Nikolas Busse in der FAZ: "Die Erinnerung an die deutschen Verbrechen, welche die Geschichtsrevisionisten in der AfD so gern tilgen würden, ist in vielen unserer Nachbarländer noch lebendig, von Frankreich bis Polen. Ausgerechnet einer italienischen Zeitung hat der Spitzenkandidat der Partei auf die Frage, ob die Deutschen auf ihre Vorfahren auch stolz sein sollten, wenn es SS-Offiziere waren, gesagt, das komme auf deren Taten an. Das belebt altes Misstrauen. Die Massaker der SS sind in Italien nicht vergessen."

SPD-Plakat zur Europawahl 2024


Ziemlich abgestoßen kommentiert Jürgen Kaube in der FAZ die zynische Friedensrhetorik, mit der die SPD - rhetorisch eher eine Kraft des faulen Friedens mit Autokraten - ihren Europa-Wahlkampf führt. "Das Wahlkampfplakat spekuliert ... auf die Angst von Wählern, denen eingeredet werden soll, sie bekämen weniger Frieden, wenn sie ihre Stimme nicht der SPD geben. 'Auf Katarina Barley und den Kanzler kommt es an' steht darauf, auch wenn es unerfindlich ist, inwiefern es auf Katarina Barley in der Friedensfrage ankommt. Und wie hört sich 'Frieden sichern' wohl in Charkiw an?"

Bernard-Henri Lévys Zeitschrift La Règle du Jeu kündigt für nächsten Montag ein Veranstaltung unter dem Titel "Europa gegen den Antisemitismus" an. Ort der Debatte soll ein Theater in Paris sein. Wie in Frankreich so häufig, ist es hier allerdings eher Frankreich, das im Namen Europas spricht - denn Intellektuelle aus anderen Ländern als Frankreich sind mit Ausnahme von ein paar Journalisten nicht dabei. Im Ankündigungstext heißt es: "Es ist wie eine schwarze Wolke, die von Malmö über Brüssel bis hin zu den Campi französischer Universitäten über dem europäischen Kontinent schwebt. Was sagen die Spitzenkandidaten für die Europawahlen am 9. Juni dazu? Nicht viel. Wer hat in der zu Ende gehenden Kampagne mit der nötigen Kraft dieses Gift angeprangert, das die Herzen erniedrigt, den inneren Frieden stört, die Demokratie korrumpiert und die Grundfesten Europas untergräbt? (...) Die Flut des Hasses stoppen, die unsere Gesellschaften verwüstet: Es sollte in den letzten Tagen des Wahlkampfs kein heißeres Thema geben."

Auch an deutschen Universitäten wurden Campi besetzt und skandierten Studenten Parolen wie "From The River to the Sea". In der Humboldt Uni sprühten sie auf Bürotüren von Feinden den aus der Nazizeit bekannten "roten Winkel", ein Nazi-Symbol, das die Hamas benutzt, um Feinde zu markieren. Uni-Präsidentin Julia von Blumenthal suchte erst den "Dialog", dann ließ sie räumen, auch auf Weisung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin. Die Verwüstung im sozialwissenschaftlichen Institut der HU war so schockierend, dass sie der Abendschau verbot zu filmen, und auch Mitarbeiter durften nicht fotrografieren. Im Interview mit Lukas Hildebrand vom Spiegel spricht sie über ihre Beweggründe: "Gerade in einem Institut für Sozialwissenschaften wollten wir ... einen Raum für Diskussion schaffen. Jetzt, wo ich das Ausmaß der Sachbeschädigungen kenne, steht aber auch für mich fest: Wir dürfen dieses Risiko nicht mehr eingehen. Ich habe am Donnerstag vonseiten der Besetzer auch zu viele Ausrufe gehört, die die Grenze des Aushaltbaren überschritten."

Die Freie Universität hatte ihren Campus eine Woche zuvor sehr viel schneller räumen lassen. Darauf setzte es einen Dozentenaufruf, der von mehr als 400 FU-Dozenten und über tausend Dozenten anderer Unis verfasst war und die Räumung in harschen Worten kritisierte (unsere Resümees). Diesmal war die Stimmung anders. Die Dekane der HU solidarisieren sich in einem Offenen Brief mit der Uni-Präsidentin. "Im Rahmen der Besetzung begangene Sachbeschädigungen und weitere Straftaten verurteilen wir und begrüßen, dass die Universitätsleitung Strafanträge stellt. Wir treten allen Versuchen entgegen, unsere jüdischen und palästinensischen Studierenden gegeneinander aufzuhetzen." Auch Protagonistinnen des Dozentenaufrufs von vergangener Woche wie Naika Foroutan äußern sich distanziert zur HU-Besetzung: "Klares Statement der HU-Präsidentin", schreibt Foroutan auf Twitter. Und die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky, die nach der FU-Besetzung noch im Namen der von ihr geleiteten Deutschen Gesellschaft für Soziologie protestierte (unser Resümee), schreibt auf Twitter zur HU-Räumung: "Richtig so. Die Proteste schlagen um in absolut inakzeptable terroraffine und eindeutig antisemitische Aggressionen. SHAME SHAME SHAME on the 'Protester'." Woraufhin Dirk Moses ihr antwortet: "Shame on you for this tweet."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.05.2024 - Europa

In der SZ kann Stefan Kornelius einfach nicht verstehen, dass der Westen so zaghaft, wenn überhaupt, auf die Attacken Russlands reagiert: "Der Moskauer Gesetzentwurf zur Verschiebung der Seegrenzen in der Ostsee ist nicht zufällig an die Öffentlichkeit geraten. Nun wurden die ersten Grenzbojen zu Estland versetzt - eine eklatante Provokation. Die Übung mit taktischen Nuklearwaffen an der Grenze zur Ukraine dient der Einschüchterung und trägt die Botschaft, dass eine nukleare Eskalation nach wie vor als Option gesehen wird. In der Ukraine selbst zeigt der furiose Angriff auf die Region Charkiw, dass die westliche Schläfrigkeit bei der Waffenlieferung - gepaart mit skurrilen Nutzungsbedingungen etwa für Langstreckenflugkörper oder Drohnen - einen nicht mehr gutzumachenden Schaden angerichtet haben." Appeasement hilft da nicht, meint Kornelius, es wirke "geradezu kontraproduktiv, seinen wachsenden Provokationen keine Grenzen zu setzen - so wächst die Kriegsgefahr nur, so schlittert der Westen immer stärker in diesen Krieg hinein".

"The Muslim Vote" ist zwar keine Partei aber eine "campaign group", die bei der gerade ausgerufenen britischen Unterhauswahl bestimmte Politiker zur Wahl empfehlen wird, berichtet Neha Gohil im Guardian. "Sie will in Kürze eine Liste der von ihr unterstützten Kandidaten erstellen." Muslime fühlten sich von frühen Stellungnahmen von Labour pro Israel nach dem 7. Oktober gestört - das hatte bei den Kommunalwahlen bereits Einfluss: "In 58 Gemeinderatsbezirken, in denen sich mehr als einer von fünf Einwohnern als Muslim identifiziert, ging der Stimmenanteil von Labour bei den diesjährigen Kommunalwahlen um 21 Prozent zurück, wie eine Analyse der BBC ergab. Bei den Bürgermeisterwahlen in den West Midlands war der Sieg der Labour-Partei besonders knapp, was zum Teil auf den unabhängigen Kandidaten Akhmed Yakoob zurückzuführen ist, der den dritten Platz belegte und seine Kampagne teilweise auf einem Gaza-Ticket führte."

Dominic Johnson kommentiert in der taz die Ausrufung der Unterhauswahl durch Rishi Sunak am Mittwochabend - eine Chance gibt er ihm nicht: "Die kleine Sekunde nach Abschluss seiner verregneten Wahlankündigung vor 10 Downing Street am Mittwochabend, als er mit seinem Manuskript durch war und kurz mit einem intensiven, wehmütigen Abschiedsblick in die Kameras schaute, sprach Bände."

Tornike Mandaria porträtiert in einer längeren taz-Reportage die jungen Demonstranten von Georgien, die sich seit Monaten gegen ein "Ausländische-Agenten"-Gesetz à la Moskau wenden. "Ihre Waffen sind Pfefferspray und eine unerschütterliche Entschlossenheit. Sie alle sind Vertreter*innen der Generation Z, die, in den neunziger und nuller Jahren geboren, zu einem echten Machtfaktor in der georgischen Politik geworden sind. Liberale NGOs und Online-Medien, die in der Regel auf westliche finanzielle Unterstützung angewiesen sind, sind für viele junge Menschen in Georgien die Hauptinformationsquelle und spielen eine Schlüsselrolle bei der Meinungsbildung. Angesichts eines tief sitzenden Misstrauens gegenüber der politischen Elite befürworten sie einen dezentralen Ansatz und lehnen daher die Idee eines Anführers oder einer Anführerin der Proteste ab."

Im Blick auf die Europawahlen muss Rudolf Balmer in der taz konstatieren: "In Frankreich ziehen die Listen der extremen Rechten zusammengezählt annähernd 40 Prozent der Wählerschaft an, während die Macronisten diskreditiert und die Linksparteien gespalten sind." Marine Le Pen hat Kreide gefressen, was sie unlängst auch durch den Bruch mit der AfD unterstrich. "Marine Le Pen hatte verstanden, dass sie allein mit Wahlkampagnen niemals an die Macht kommen würde, solange die konservative Rechte eine formelle Zusammenarbeit oder Allianz ablehnt. Patrick Buisson, ein ehemaliger Journalist und 2007 Berater des Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy, hatte ihr mit seiner Interpretation der Theorie der kulturellen Hegemonie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci ein Strategiekonzept geliefert, das seither von mehreren Vertretern der extremen Rechten in Frankreich zitiert wird." Als treibende Kraft benennt Balmer aber auch den Milliardär Vincent Bolloré.

Auf Zeit online ist Alan Posener geschockt über eine Reportage im Spiegel, die nachzeichnet, wie Flüchtlinge mit Wissen und Billigung der EU in Nordafrika vor der Einschiffung abgefangen und buchstäblich in die Wüste geschickt werden. So geht's nicht, ruft er. Was also tun? "Es ist ja richtig, die illegale Migration möglichst nahe an den Heimatländern der Migrantinnen aufzufangen. Die alte Idee des früheren SPD-Innenministers Otto Schily, Lager in Nordafrika - oder auch in Ländern wie Ruanda - einzurichten, in denen Asylanträge, aber auch Anträge auf Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse oder Familienzusammenführung gestellt werden können, hat es inzwischen ins CDU-Grundsatzprogramm geschafft. Gut so. Aber es muss klar sein, dass solche Einrichtungen von europäischen Behörden nach europäischen Richtlinien eingerichtet und auch beaufsichtigt werden müssen. Sie sollten extraterritoriale Gebilde sein, wie Botschaftsgebäude, in denen europäische Normen und europäisches Recht herrschen. Das kostet. Aber billig ist eine echte Lösung nicht zu haben. Billig sind nur Scheinlösungen zu haben."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.05.2024 - Europa

Hanna Vasyk hat sich freiwillig als Sanitäterin in der ukrainischen Armee an einem der härtesten Abschnitte der Front verpflichtet. In der FAZ erklärt sie, warum sie das tut und was es für sie bedeutet: "Für Sie sehe ich gesund aus. Ich habe beide Arme und Beine. Bis jetzt. Aber ich habe unsichtbare Verletzungen. Posttraumatische Belastungsstörungen. Eine Gehirnerschütterung, ein geplatztes Trommelfell. Der Platz in der ersten Reihe beim wichtigsten Ereignis der ganzen Welt kostet seinen Preis. Dies ist, was ich bezahle. Bisher nicht übertrieben viel. Denn Tausende von uns haben schon den höchsten Preise bezahlt - und es reicht nicht aus."

In seiner FAZ-Kolumne erzählt Bülent Mumay, wie Recep Tayyip Erdogan die Meinungsfreiheit in der Türkei immer weiter einschränkt. Nun nimmt er sich ein Vorbild an Russland und Georgien: "Das geplante Gesetz gegen ausländische Einflussnahme, wie Russland es bereits 2012 erlassen und wie es in den letzten Tagen Georgien erschüttert hat, wird die Türkei voraussichtlich in ein offenes Gefängnis verwandeln. Wer in der Türkei 'im Auftrag oder im strategischen Interesse eines ausländischen Staates oder einer ausländischen Organisation zum Schaden der Sicherheit oder der außenpolitischen Interessen des Staates' recherchiert oder forscht, wie es vage heißt, ist mit bis zu sieben Jahren Haft bedroht." Wenn das Gesetz durchkommt, "wäre möglich, dass ich angeklagt werde, weil ich diese Kolumne für die FAZ, 'eine ausländische Organisation', geschrieben und 'gegen die Türkei gerichtete Propaganda' betrieben habe."
Stichwörter: Türkei, Ukrainekrieg, Georgien