9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.04.2024 - Ideen

Buch in der Debatte

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Der einzige "Weg aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit" ist eine "Revolution" die darin besteht, Gürtel enger zu schnallen, predigen die Historikerin Hedwig Richter und Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakeur der Zeit, ebendort. "Das gewaltige mentale Problem besteht bei diesem Epochenbruch darin, dass die Mehrheit in den westlichen Ländern das atemberaubende Privileg, nur für einen kleinen Teil der eigenen Kollateralwirkungen aufkommen zu müssen, keineswegs als Privileg erlebt hat. Stattdessen verstanden die Menschen die systemische Sorglosigkeit, ihre endemische Bequemlichkeit zunehmend als ein Grundrecht und begannen, die Nebenfolgenfreiheit mit der Freiheit an sich zu verwechseln. Deswegen erscheint ihnen jetzt der schrille Klang des eigenen materiellen und moralischen Echos als ein Angriff auf die Freiheit höchstselbst." Die beiden Autoren legen bei Kiwi ein Buch gleichen Inhalts vor.

Die Philosophin Nancy Fraser, 76, ist nach wie vor stinksauer, dass ihre Einladung zur Albertus-Magnus-Professur von der Kölner Uni-Leitung zurückgezogen wurde. Im Gespräch mit Elisabeth von Thadden von der Zeit beklagt sie erneut, dass Wissenschafts- und Meinungsfreiheit verletzt worden seien: "Außerdem wurde meine Freiheit als Bürgerin verletzt, zu denken, was ich für richtig halte." Auch über das Boykott-Thema spricht sie: "Ich habe den Boykott Südafrikas unterstützt, ich bin für einen ökonomischen Boykott Israels, aber das sind Protestformen gegen Staaten. Die israelische Regierung tötet in Gaza durch staatliches Handeln. Ich bin kein Staat, ich habe niemanden getötet, ich bin ein freier Mensch, der aufgrund seiner Auffassungen gecancelt wird, und das darf in einer liberalen demokratischen Gesellschaft nicht passieren."

"Cancel Culture" ist nichts anderes als ein Begriff für Ausgrenzung, die noch in jeder Zivilisation praktiziert werde, um eben jene Zivilistaion aufrechtzuerhalten, und gecancelt gehören sowohl rechter als auch linker Antisemitismus, meint dagegen Spiegel-online-Kolumnist Sascha Lobo, der dazu rät, eine gute Praxis der Ausgrenzung zu entwickeln. Ein Beispiel dafür gebe es ja schon: "Auch heute herrscht zumindest noch unter dem allergrößten Teil der demokratischen Parteien Einigkeit, dass die rechtsextreme AfD und deren Funktionäre ausgegrenzt gehören. Deshalb hat die AfD zum Beispiel keinen Parlamentsvizepräsidenten, deshalb ist sie im Fußballteam des Bundestags nicht erwünscht, deshalb gesteht man dieser antidemokratischen Partei nur das absolute Minimum der politischen Teilhabe zu. Die Ausgrenzung der AfD ist richtig und wichtig und die Essenz von dem, was man auch bei den Konservativen der Union 'Brandmauer' nennt."

Jan Feddersen schafft es in der taz denn auch nicht, allzuviel Mitleid mit Fraser aufzubringen: "Was Fraser jetzt in zahllosen Interviews mit deutschen Medien betreibt, ist, die Rolle der verfolgten Unschuld zu geben. Ist sie nicht: Sie zählt, wie Masha Gessen, Judith Butler and you name it many more, zu jenen Stichwortgeberinnen* des antiisraelischen Zeitgeistes, der diesen Staat schlimmer als Nordkorea, Russland oder Iran zeichnet."

Und Thomas Thiel macht in der FAZ darauf aufmerksam, dass Fraser nach den Hamas-Pogromen weitere Offene Briefe gegen Israel unterzeichnet hat, darunter, besonders abstoßend, den Brief "Stop Manipulating Sexual Assault", der Israel vorwirft, die Vergewaltigungen und Sexualmorde der Hamas "propagandistisch auszubeuten, um vom Gazakrieg abzulenken. Auf Belege dafür wird weitgehend verzichtet. Das gilt auch für die Insinuation, israelische Soldaten und Sicherheitskräfte hätten sich sexueller Übergriffe gegen Palästinenserinnen schuldig gemacht."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.04.2024 - Ideen

Das Existenzrecht Israels stelle weder sie noch die anderen Unterzeichner des Manifests "Philosophy for Palestine" in Frage, sagt Nancy Fraser heute im taz-Gespräch mit Daniel Bax: "Ich und die rund vierhundert Menschen, die diese Erklärung unterschrieben haben, werden durch solche Behauptungen verleumdet. Der Rektor und die Kräfte innerhalb der deutschen Regierung, die ihn unterstützen, sollten mit ihren Falschdarstellungen des Briefs konfrontiert werden und für diese Verzerrungen zur Rechenschaft gezogen werden. Der Kölner Rektor ist übrigens auch der Präsident des DAAD, der den gesamten Austausch der deutschen Wissenschaft mit internationalen Wissenschaftlern und Studenten organisiert. Wenn es für Stipendien und andere Formen des akademischen Austauschs jetzt diese Art von McCarthy-haften Anforderungen geben sollte, wäre das sehr beunruhigend."

Für die taz-Nahaufnahme hat Bax sich außerdem mit in Berlin lebenden palästinensischen Kulturschaffenden getroffen, die über Rassismus und Ausgrenzung klagen, darunter der Buchhändler und Filmfestival-Organisator Fadi Abdelnour, der meint "bei den großen Kulturinstitutionen herrsche Verunsicherung und Angst (…) Es gab eine Welle von Absagen aufgrund von 'Antisemitismus'-Vorwürfen, auch gegen jüdische Künstler. Palästinensische Stimmen würden kaum noch auf ein Podium geladen. Wenn es Veranstaltungen und Podiumsgespräche gibt, dann meist in unabhängigen Hinterhofkinos, in linken Treffpunkten oder akademischen Hinterzimmern. 'Wer weltoffen denken möchte, für den wird der Raum immer kleiner', sagt Fadi Abdelnour. Man müsse vorsichtig sein, um nicht anzuecken."

Weitere Artikel: Omri Boehm versucht in seinem Buch "Radikaler Universalismus" die Idee des Universalismus aus der Bibel abzuleiten, indem er den von Gott gesandten Engel aus der Geschichte Abrahams, der gerade seinen Sohn opfern will, eliminiert und die angebliche Verweigerung der Opferung durch Abraham zur Urtat des Universalismus machte. In der SZ fühlte sich Gustav Seibt kürzlich an Thomas Manns Roman "Joseph und seine Brüder" erinnert, der die gleiche Szene reflektiert (Unser Resümee). Zur Erweiterung von Seibts "berührendem mythengeschichtlichen Exkurs" empfiehlt Thomas Wagner auf den Geisteswissenschaftenseiten der FAZ heute Rüdiger Haudes "Als Adam grub und Eva spann" sowie Jan Assmanns Buch "Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Ägypten, Israel und Europa" und Ton Veerkamps "Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung". Sehr wortreich denkt Dietmar Dath im Aufmacher des FAZ-Feuilletons mit Goethe und Maxwell über die Zukunft der KI nicht nur im Bereich der Chemie nach.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.04.2024 - Ideen

Sehr zornig reagiert Nancy Fraser auf die Absage der Universität Köln im Gespräch mit Hanno Hauenstein (FR), in dem sie auch rechtliche Schritte nicht ausschließt: "Die Verantwortlichen an deutschen Universitäten und Kunstinstitutionen und in der deutschen Bundesregierung, die sowas abnicken, verstoßen eindeutig gegen akademische und offen gesagt auch verfassungsrechtlich verbriefte Normen politischer Freiheiten. Dieser Vorgang wird der deutschen Wissenschaft erheblichen Schaden zufügen", meint sie und spricht von einem "philosemitischen McCarthyismus" in Deutschland: "Es wäre wichtig ist, dass die Deutschen anfangen sich mit der Komplexität und inhaltlichen Breite des Judentums, seiner Geschichte und Perspektive auseinanderzusetzen. Sie verschreiben sich dieser Idee eines bedingungslosen Treuegelöbnisses gegenüber Israel als Ausdruck der historischen Sühne und Verantwortung. Angesichts dessen, was Israel gerade tut, ist dies ein Verrat an einigen der wichtigsten Aspekte des Judentums als Geschichte und Perspektive. Ich spreche vom Judentum von Maimonides und Spinoza, von Sigmund Freud, Heinrich Heine und Ernst Bloch."

Das von Fraser unterzeichnete Manifest nennt Claus Leggewie im Kölner Stadt-Anzeiger eine "Armutserklärung", ihre Rede vom "philosemitischen McCartyhismus" "irrwitzig". Und dennoch ist die Ausladung der Uni Köln falsch, meint er: "Die Kölner Universität wäre doch der am besten geeignete Ort gewesen, um sich offensiv mit Nancy Frasers untragbarer Position auseinanderzusetzen. Und welches Risiko wäre man schon eingegangen, wenn Fraser ihren angesetzten Vortrag über die Arbeit im Kapitalismus vorgetragen hätte? Regierungsoffiziös vorgegebene 'rote Linien' strapazieren die Wissenschaftsfreiheit genauso wie vorlaute Boykottaufrufe und destruktive Störmanöver selbsternannter 'Antizionisten'. Mit der Absage gibt man einer Persönlichkeit scheinbar recht, die selbst zum Boykott, das heißt: zur Beendigung des philosophischen und politischen Disputs, aufgerufen hat."

In Nancy Frasers Ausladung einen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit zu wähnen, verkehrt … die Kausalkette und entleert den Begriff", kommentiert Jonathan Guggenberger in der taz: "Gleich noch mit einer Entwertung für den Wissenschaftsstandort Deutschland zu drohen suggeriert: Der nationale Erfolg bemisst sich am Grad der Verklärung antijüdischer Gewaltakte. Kritikwürdig bleibt indes auch, warum die Absage erst fünf Monate nach dem Aufruf erfolgte. Es sind Entkopplungen wie diese, die den immergleichen Zirkelschluss zulassen: den der Cancel Culture hinter verschlossenen Türen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.04.2024 - Ideen

FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube kann die Aufregung um die Ausladung Nancy Frasers von der Albertus-Magnus-Professur der Uni Köln (unser Resümee) nicht nachvollziehen - Fraser hatte mit anderen nach den Hamas-Pogromen zu einem Israel-Boykott aufgerufen: "Eine Gastvorlesung ist abgesagt worden, weil an den Begriff des Gastes bestimmte Kriterien gebunden sind. Die Universität zu Köln möchte die Kontrolle darüber behalten, wen sie ehrt. Professoren, die glauben, das müsse vielmehr 'der internationale Diskurs' definieren und aus 'internationaler Anerkennung' entspringe das Recht auf folgenloses Unterschreiben jeglichen Unfugs, sehen sich im Irrtum."

Für taz-Autor Daniel Bax offenbart sich durch die Ausladung aber vor allem eine schlimme Tendenz des Uni-Präsidenten, der es nicht mal ablehnt, mit dem israelischen Botschafter zu sprechen: "Der Anglist Joybrato Mukherjee, der auch Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) ist, vertritt die deutsche Staatsraison sehr engagiert. Im Januar lud er etwa den israelischen Botschafter Ron Prosor, einen rechten Hardliner, zu einem Vortrag an die Universität ein. Proteste versuchte Mukherjee, schon im Vorfeld zu unterbinden."
Stichwörter: Fraser, Nancy, Hamas

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.04.2024 - Ideen

Die Universität Köln hat der Philosophin Nancy Fraser die Einladung zur Albertus-Magnus-Professur 2024 entzogen. In einer Erklärung benennt die Uni-Leitung den von Fraser unterzeichneten offenen Brief "Philosophy for Palestine" (unsere Resümees). Kurz nach den Hamas-Pogromen an israelischen Zivilisten hatten die Unterzeichner dieses Briefs zu einem "kulturellen und universitären Boykott israelischer Institutionen" aufgerufen. Auf die Albertus-Magnus-Professur "wird jedes Jahr eine Persönlichkeit von internationaler Bedeutung berufen" heißt es sehr allgemein auf den Seiten der Uni Köln. "In öffentlichen Vorlesungen und Seminaren werden Fragen von allgemeiner Bedeutung behandelt, die derzeit in vielen Grundlagenwissenschaften, aber auch in der öffentlichen Debatte eine Rolle spielen" - tatsächlich eingeladen wurde in den letzten Jahren von Giorgio Agamben bis Judith Butler vor allem die Crème de le crème des poststrukturalistischen Denkens.

Einige als renommiert geltende deutsche Geisteswissenschaftler haben sich bereits in einer Protestnote mit Fraser solidarisiert: "Nancy Frasers Arbeit ist in Deutschland weit über die engere akademische Welt hinaus rezipiert worden und hat hierzulande wie nur wenige andere zu einer Internationalisierung der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion beigetragen. Solche Forschungszusammenhänge mit internationaler und öffentlicher Ausstrahlung geraten durch Maßnahmen wie die der Kölner Universität in Gefahr. Damit droht das Vorgehen der Kölner Universitätsleitung auch international als ein Angriff auf das wahrgenommen zu werden, was eine Universität sein sollte: ein Ort für intensiven und kontroversen Austausch über gesellschaftlich relevante Fragen" - außer mit israelischen Institutionen, versteht sich. Zu den Unterzeichnern gehören Rahel Jaeggi, Christoph Menke, Stephan Lessenich, Axel Honneth, Hartmut Rosa, Eva von Redecker, Oliver Nachtwey und viele andere.

In der taz wirft der in Bayreuth lehrende Wirtschaftsgeograf Stefan Ouma den Kritikern der postkolonialen Theorie vor, einen "revanchistischen" Kulturkampf zu führen: "Dieser identitätspolitische Pushback ist Ausdruck des Versuchs, mit aller Kraft an den eigenen Privilegien und der Deutungshoheit über Geschichte und Gesellschaft festhalten zu wollen." Dabei bringe der Postkolonialismus nur Frieden: "Eine friedliche und inklusive Zukunft in Israel/Palästina kann aber ohne die Einsichten postkolonialer Theorien nicht realisiert werden. Gerade weil ihre Vertreter*innen Fragen der Verteilung und Kontrolle von Land, der Entstehung menschenfeindlicher Kategorisierungen, Ausschlussmechanismen und multidirektionaler Gewaltverhältnisse ins Zentrum ihrer Analysen stellen, bieten sie eine überaus nuancierte Analyse des Nahostkonflikts an."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.04.2024 - Ideen

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Buch in der Debatte

In der FR teilt Lukas Geisler kräftig gegen die Ethnologin Susanne Schröter und ihr Buch "Der neue Kulturkampf" aus. Als "zumindest in Teilen rechtsextrem" sieht Geisler Schröters Positionen an, die unter anderem vor einer Infiltrierung von Gesellschaft und Politik durch den "Wokismus" warnt - und dabei, laut Geisler, rassistische und antisemitische Verschwörungstheorien bedient:  "Wer erzählt, dass es sogenannten Woken gelungen ist, in großen Bereichen 'der Wissenschaft, der Medien und des Kultur- und Bildungsbereichs die Diskurshoheit zu erlangen' und dass eine Minderheit dadurch die Mehrheit dominiere, der vertritt - so ließe es sich interpretieren - im Endeffekt die nationalsozialistische Verschwörungserzählung des sogenannten Kulturmarxismus. Dieser ist nicht nur ein politisches Schlagwort der US-amerikanischen 'Alt-Right'-Bewegung, auch der rechtsextreme Terrorist Anders Breivik gab an, dass er sein Land vor ebenjenem Kulturmarxismus schützen wolle. Nun gibt es scheinbar eine neue Chiffre für die alte Erzählung: 'Wokismus'."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.04.2024 - Ideen

Nils Markwardt sucht in einem sehr langen Zeit online-Essay nach einer Antwort auf die Frage, warum Rechtsextremismus überall Erfolg hat, obwohl er innerlich voller Widersprüche ist. Jedenfalls sieht er ihn auf besten Wege zu einem neuen Faschismus, denn er beschränke sich keineswegs nur "auf nationale Mythenpflege und nostalgische Beschwörung vergangener Zeiten, noch will er lediglich sogenannte traditionelle Werte konservieren. Er versteht sich ebenso als politisches Hochgeschwindigkeitsprojekt, das einen radikalen Bruch mit der Gegenwart verspricht. Sein Motto könnte wie ein alter Slogan aus dem Silicon Valley lauten: 'Move fast and break things'." Man mag sich allerdings fragen, ob eine Analyse des Rechtsextremismus fruchtet, die nur diesen in den Blick nimmt und und nicht die Widersprüche und Non-Dits der Mehrheitsgesellschaft, an denen er sich mästet.

Auch Armin Nassehi versucht im Blog des Kursbuchs, rechsextremen Ideen auf die Spur zu kommen und liest dafür das Buch "Politik von rechts" des AfD-Politikers Maximilian Krah, das er übrigens gut geschrieben findet. Krah entwickelt darin demnach die üblichen Begriffe einer ethnisch definierten Identitätspolitik. Und Nassehi schreibt dazu: "Es sollte deutlich geworden sein, dass diese Konzepte keineswegs nur etwas konservativer sind, etwas migrationskritischer oder etwas mehr an einer traditionell verfassten eigenen Identität orientiert. Es handelt sich genau besehen tatsächlich um Konzepte, die einen Bruch mit einem demokratischen Grundcomment und mit der Verfassung darstellen - denn Zugehörigkeiten werden in derselben Weise völkisch beschrieben, wie wir es bereits aus sehr extremen Traditionen kennen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.03.2024 - Ideen

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Die Autorin Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman, einst Hornist in Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra, legen in den nächsten Tagen bei Suhrkamp einen Briefwechsel vor, der den 7. Oktober reflektiert, Titel: "Gleichzeit". Sie schreibt aus Berlin, er aus Jerusalem. Lothar Müller befragt die beiden für die SZ. Den Titel erklärt Waldman mit einem Zusammenstürzen der Zeitebenen: "Allein das Aussprechen des Wortes 'Pogrom' als Bezeichnung für ein Geschehen, das auf souveränem israelischen Gebiet geschehen ist, dem man aber ohnmächtig gegenüberstand, war ein Aufbrechen der bis dahin klaren generationellen Schichtung: erste Generation, zweite Generation, dritte Generation. Ich bin Ende der Siebzigerjahre geboren, in einem selbstsicheren, sehr mächtigen israelischen Staat." Für Salzmann manifestiert sich "Gleichzeit" auch im Gespräch mit der arabischen Seite: "Was uns jenseits aller nationalen und religiösen Zuschreibungen verbindet, das ist der Schmerz, ist die Trauer um eine Welt, die vorbei ist. Auch die Wut kann ein verbindendes Element sein."

Der Historiker Urs Lindner, zur Zeit Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, verspricht in der taz "Wege aus der Dichotomie" im Historikerstreit 2.0 und im Streit um Antisemitismus. Alles ganz einfach, findet er, man muss nur akzeptieren, dass Antisemitismus ein Extremfall des Rassismus und die Schoa ein Extremfall genozidaler Verbrechen ist, schon wird aus der Position der Postkolonialisten Dirk Moses und Jürgen Zimmerer die Kompromissposition! In den letzten dreißig Jahren hätten sich "Shoah-Historiografie, die (nichtdeutsche) Singularitätsdiskussion wie auch die Globalisierung der Shoah-Erinnerung allesamt in Richtung Extremfallkonzeption bewegt. Kaum jemand in diesen Bereichen bestreitet mehr, dass die Shoah substanziell ein Genozid war - also ein Exemplar einer übergeordneten Kategorie. Als singulär kann sie damit nur noch im Sinne des Extremfalls aufgefasst werden."

Kritik an Antisemitismus ist im Grunde schon seit Jahrzehnten eine vom Rechtsextremismus gekaperte Aktivität, findet der Politologe Cas Mudde in einem längeren Twitter-Thread, der sich ein bisschen verschwörungstheoretisch liest: "Im Westeuropa der Nachkriegszeit, das durch den Holocaust und immer noch stark kolonial geprägt war, wurde Antisemitismus zum wichtigsten (einzigen) Indikator für Rassismus im Allgemeinen und für die extreme Rechte im Besonderen. Rechtsextreme Parteien in Westeuropa verstanden dies schnell und hielten sich sowohl vom Antisemitismus als auch vom Antizionismus (zumindest offiziell) fern. In der 'dritten Phase' (1980-2000) ... entwickelten mehrere Parteien eine pro-jüdische oder pro-Israel-Position, die manchmal sogar mit dem Philo-Semitismus kokettierte (welcher oft antisemitische Tropen enthält). Im Zuge der weit verbreiteten islamfeindlichen Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 begannen sich Antisemitismus und Islamophobie deutlich zu überschneiden."

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Omri Boehm (dem Oz-Salzberger oben, ohne ihn zu nennen, seine Einstaaten-Flause aus dem Kopf schlägt) versucht in seinem viel gefeierten Buch "Radikaler Universalismus" die Idee des Univeralismus ausgerechnet aus der Bibel abzuleiten. Er eliminiert den Gott gesandten Engel aus der Geschichte Abrahams, der gerade nolens volens seinen Sohn opfern will und macht die angebliche Verweigerung der Opferung durch Abraham zur Urtat des Universalismus. In der SZ fühlt sich Gustav Seibt an Thomas Manns Roman "Joseph und seine Brüder" erinnert, der die gleiche Szene reflektiert. Mann fasse die Prüfung Abrahams auch als eine Prüfung Gotts auf, nämlich zur Frage, "ob dieser Gott ein Moloch sei, 'Melech, der Baale Stierkönig', dem nach Menschenopfern verlange. 'Nein', spricht dieser Gott... 'was ich befahl, habe ich nicht befohlen, auf dass du es tuest, sondern auf dass du es nicht tun sollst, weil es schlechthin ein Greuel ist vor meinem Angesicht, und hier hast du übrigens einen Widder.'"

Außerdem: Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman. Und Jan Philipp Reemtsma erklärt im Spiegel-Gespräch, warum sein Hamburger Institut für Sozialforschung mit ihm enden soll.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.03.2024 - Ideen

La Règle du jeu ist Bernard-Henri Lévys Website, offiziell die seiner Zeitschrift. Wenn Marc Knobel hier über Lévys neues Buch "La solitude d'Israel" schreibt, darf man nichts anderes als eine Hommage erwarten. Aber in einem Satz Lévys, den Knobel zitiert, ist tatsächlich die Essenz des 7. Oktober resümiert: "'Kein Land auf dieser Erde, das den Juden Schutz bietet - das ist die Aussage des Ereignisses.' Die Einsamkeit Israels, die des Philosophen, ist unsere Einsamkeit."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.03.2024 - Ideen

Frauen sind für Judith Butler nicht Frauen, Antisemitismus ist nicht Antisemitismus, Verbrechen ist Widerstand, konstatiert Thomas Ribi, der in der NZZ nochmal auf Butlers jüngste Äußerungen zurückkommt. "Man muss das wohl als intellektuelle Kapitulation einer Denkerin verstehen, die sich in ihren eigenen Theorien verfängt. Als Notsignal einer Philosophin, in deren Arbeitszimmer sich Hass, Gewalt, Elend und Tod in reine Begriffe aufgelöst haben, denen keine physische Realität mehr entspricht."
Stichwörter: Butler, Judith