9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Politik

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.06.2024 - Politik

In der FAZ begrüßt Majid Sattar das historische Urteil gegen Donald Trump (unser Resümee). Dieses könnte die letzte Chance für Joe Biden sein, die Wahl doch noch zu gewinnen: "Trump lebte lange von seinem Sieger-Image. Das entsprach schon lange nicht mehr der Wirklichkeit: Seit 2018 hat er in Wahlen fast nur noch verloren. Und nun verliert er auch vor Gericht. Trumps Gesicht war rot bei der Urteilsverkündung, sein Blick versteinert. Als wüsste er, dass er am Donnerstag nicht nur einen Prozess verloren hat. Die Szene erinnerte an das Wahljahr 2020, als Trump begriff, dass das Coronavirus ihn den Wahlsieg kosten würde."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.05.2024 - Politik

Die New York Times bringt auf ihrer Homepage eine angemessen große Betitelung: Donald Trump ist in seinem New Yorker Prozess um die Vertuschung von Schweigegeldern für eine Porno-Darstellerin als Geschäftsausgaben und anderen Fällen durchweg "schuldig" gesprochen worden:



Maggie Astor stellt in einem ersten Kommentar für die Times die Frage aller Fragen, deren Antwort wir alle aber längst schon kennen: "Kann er noch kandidieren?" Aber klar: "Die Verfassung stellt nur sehr wenige Anforderungen an die Wählbarkeit von Präsidenten. Sie müssen mindestens 35 Jahre alt sein, von Geburt an über die US-amerikanische Staatsbürgerschaft verfügen und seit mindestens 14 Jahren in den Vereinigten Staaten leben. Es gibt keine Einschränkungen aufgrund des Charakters oder des Strafregisters. Einige Bundesstaaten verbieten Straftätern die Kandidatur für staatliche und kommunale Ämter, aber diese Gesetze gelten nicht für Bundesämter."

"Wir müssen den Krieg sofort beenden und erklären, dass wir uns vollständig aus dem Gazastreifen zurückziehen", fordert Israel Ex-Premier Ehud Olmert im ZeitOnline-Gespräch, in dem er Netanjahu zwar deutlich anklagt, aber dem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof nicht befürwortet. Olmert plädiert nach wie vor für eine Zweistaatenlösung: "Es gibt praktische Lösungen, die es ermöglichen, einen palästinensischen Staat auf der Grundlage der 1967er-Grenzen zu errichten. Natürlich, die Realität hat sich verändert, sehr viel mehr Israelis leben heute im besetzten Westjordanland. Es wird also Gebietstausche geben müssen zwischen Israel und den Palästinensern, es wird Umsiedlungen von Israelis geben müssen, aber das ist machbar. Genauso wie eine Verbindung von Westbank und Gazastreifen über eine Autobahn, die vollständig von den Palästinensern kontrolliert wird. Das ist alles nicht einfach - aber es kann umgesetzt werden."

In der FR erinnert Michael Hesse an die Gründung der PLO vor sechzig Jahren, die heute beim Wiederaufbau des Gazastreifens keine Rolle mehr spielen dürfte: "Nach Arafats Tod 2004 setzte sich der Machtverlust der PLO unter Mahmud Abbas fort. Die PLO bleibt die international anerkannte Vertreterin der Palästinenser, doch der Vertrauensverlust in der Bevölkerung ist wegen Korruption und interner Konflikte unter Abbas immens. Die Trennung zwischen dem von der Hamas kontrollierten Gazastreifen und der PA im Westjordanland schwächt die PLO zusätzlich. Sie hatte maßgeblich zum Wachstum des nationalen Bewusstseins und Solidaritätsgefühls unter Palästinensern beigetragen, um nun bis zur Unkenntlichkeit zu verblassen."

In der NZZ zeichnet die Literaturvermittlerin Michi Strausfeld ein Elendsbild Argentiniens, das unter Javier Mileis drastischen Kürzungen ächzt. Subventionen von Kulturinstitutionen wurden teils völlig gestrichen, das Institut gegen Diskriminierung und Xenophobie ebenso aufgelöst wie das Kulturministerium - und Bücher sind so teuer geworden, dass die Buchhandlungen eine Rückgang von 30 bis 40 Prozent beklagen, schreibt Strausfeld: "Manche von Buenos Aires' Einwohnern glauben bereits, in einer Stadt des Schreckens zu leben, in der die Polizei keine Verbrechen verhindert, aber den Bettlern die Matratze wegzieht und ihre wenige Habe konfisziert. Gerade findet man sie überall, das Elend ist unübersehbar. Argentinien, jahrzehntelang die Kornkammer der Welt', kann seine Bevölkerung nicht mehr ernähren. Vor den Suppenküchen, deren Mittel ebenfalls gekürzt wurden, während die Bedürftigkeit rasant zunimmt, stehen lange Schlangen, ganze Familien bitten verzweifelt um Hilfe. Auf der stolzen Prachtstraße Florida werden alle fünf Meter Dollar zum Tausch angeboten, Billigläden haben die noblen Geschäfte ersetzt. Überall die Schilder: Ratenkauf möglich. In vier Monaten gab es zwei Warnstreiks. Als Milei jedoch die Mittel für die Universitäten kürzte und ihnen in der Folge das Licht buchstäblich ausging, rebellierte ganz Argentinien."

Am Sonntag wird in Mexiko gewählt, mit der Physikerin Claudia Sheinbaum und der Unternehmerin Xóchitl Gálvez werden zwei Frauen die größten Chancen für die Präsidentschaft zugerechnet. Dabei ist die Gewalt gegen Frauen in Mexiko in den letzten dreißig Jahren vollkommen außer Kontrolle geraten, berichtet Christoph Gurk auf Seite 3 der SZ : "Jeden Tag werden im Schnitt fast zehn Mexikanerinnen ermordet, weil sie Frauen sind. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen". Die Ursachen liegen unter anderem im Männlichkeitswahn der mexikanischen Gesellschaft: "Man sieht ihn in den telenovelas, in denen meist hilflose Frauen auf einen Retter warten. Man hört ihn in den traditionellen rancheras, gesungen von Musikern wie Vicente Fernández... Es ist nicht so, als gebe es keinen gesellschaftlichen Fortschritt in Mexiko. Der Oberste Gerichtshof hat 2023 Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert. Die Regierung hat sogar versprochen, eine dezidiert feministische Außenpolitik betreiben zu wollen. Und schon seit den Neunzigern gibt es in einigen Bundesstaaten und auch im Parlament eine Quotenregelung."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.05.2024 - Politik

In der SZ hegt die Politologin Azadeh Zamirirad leise Hoffnungen, dass der Tod des iranischen Präsidenten Raisi der Prostestbewegung im Land helfen könnte. Denn die Pläne Ali Chameneis wurden durchkreuzt: "Was nach einem reibungslosen Ablauf für die Machtübergabe aussah, ist durch Raisis Tod in Gefahr. Sein inszenierter Wahlsieg von 2021 war dazu gedacht, ihn als möglichen Nachfolger von Chamenei ins Spiel zu bringen oder ihm mindestens eine wesentliche Rolle beim Machtwechsel zuzuweisen. Durch den Tod Raisis hat Chamenei einen wichtigen Günstling verloren. Das dadurch entstandene Vakuum dürfte eben jenen Machtkampf wieder anheizen, den Chamenei durch die Homogenisierung der politischen Landschaft vermeiden wollte. Davon kann vor allem die iranische Protestbewegung profitieren. Denn der sorgfältige Plan des Revolutionsführers ist vorerst gestört, und neue Risse im System sind nicht auszuschließen. Damit ist das Rennen um die Revolution wieder offen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.05.2024 - Politik

Die Anerkennung Palästinas als Staat durch Norwegen, Spanien und Irland war überfällig, auch "um einen Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern in Gang zu setzen", meint Meron Mendel im taz-Gespräch mit Jannis Hagmann. Deutschland und die EU sollten folgen, um "damit ein klares Zeichen zu setzen, dass Netanjahus Strategie nicht aufgeht und dass ein palästinensischer Staat, der schon in den neunziger Jahren in Aussicht gestellt wurde, unausweichlich ist." Auf Hagmanns Einwand, ob es nicht klüger wäre, "auf einen Prozess hinzuarbeiten, bei dem Staaten wie Saudi-Arabien eine Anerkennung Israels in Aussicht stellen, bei dem sich aber auch die Palästinenser zu ernsthaften Verhandlungen verpflichten", erwidert Mendel: "Mit der Anerkennung gibt man nicht alles aus der Hand. Sie ist eine Reaktion auf Netanjahu, der einen palästinensischen Staat immer verhindern wollte, durch eine Stärkung der Hamas als Gegengewicht zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Im Umkehrschluss stärkt man mit der Anerkennung Palästinas als Staat die PA."

Staatsrechtler Matthias Friehe legt in der FAZ dar, weshalb Deutschland Netanjahu aufgrund der Immunität gar nicht an den IStGH ausliefern dürfte, und weshalb die Vorverfahrenskammer des IStGH im Februar 2021 einen Schritt des "judicial activism" beging, als sie die Zuständigkeit des Gerichts für Kriegsverbrechen in den palästinensischen Gebieten bejaht hat. Augenfällig wird die Grenzüberschreitung zum politischen Handeln darin, dass die Vorverfahrenskammer meinte, für die Frage der Zuständigkeit offenlassen zu können, ob Palästina ein Staat ist. Dieses Vorgehen widerspricht offenkundig den Voraussetzungen, die Art. 12 des Römischen Statuts für die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch den IStGH aufstellt. Danach ist die Zuständigkeit des IStGH - von der Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat einmal abgesehen - stets daran geknüpft, dass 'der Staat, in dessen Hoheitsgebiet das fragliche Verhalten stattgefunden hat', oder 'der Staat, dessen Staatsangehörigkeit die des Verbrechens beschuldigte Person besitzt', Vertragsstaat des IStGH ist.""

Auch eine Verurteilung wird Donald Trump nicht davon abhalten, nochmal Präsident zu werden, denn laut amerikanischem Recht kann er trotzdem kandidieren, erinnert Josef Joffe in der NZZ. Was wäre das schlimmstmögliche Szenario? Hier kann Joffe immerhin ein bisschen beruhigen: "Könnte er den Caudillo geben? Einerseits vielleicht. Der Präsident genießt eine gewaltige Machtfülle, mit seinen Notstandsrechten - insgesamt 135 -, die das Brennan Center an der Universität New York auflistet. So könnte er zum Beispiel die Bundesjustiz auf seine Feinde hetzen, die Nationalgarden der Staaten unter sein Kommando stellen. Schon Abraham Lincoln hat im Bürgerkrieg die Zensur verhängt. Noch nie hat der Kongress einen Präsidenten per Impeachment gekippt. Anderseits verfügt die amerikanische Verfassung über eine rigide Gewaltenteilung im Bund wie auch zwischen Washington und den Gliedstaaten. Wer die Macht an sich reißen will, ob von rechts oder von links, dessen Vorhaben wird konterkariert. Die US-Armee hat sich - anders als die Armeen in vielen anderen Ländern - nie eingemischt. Die Constitution lebt seit 237 Jahren, derweil rings um die Welt Hunderte von Verfassungen zerrissen und zertrampelt worden sind. Was dauert, hält."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.05.2024 - Politik

Auch in Südafrika wird gewählt, und es wird eine Schicksalswahl, da der ANC seine absolute Mehrheit verlieren könnte, berichtet Helena Kreiensiek für die taz: Im Vorfeld der Wahlen hätten populistische Parteien wie die MK des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma, "aber auch die linkspopulistische EFF (Economic Freedom Fightera) unter dem ehemaligen ANC-Jugendführer Julius Malema, wiederholt die Wahlkommission angegriffen und der Manipulation bezichtigt. ... Vor allem die EFF, deren Anführer Malema bereits zwei Mal wegen Hassreden verurteilt wurde, treibt mit radikalen Forderungen wie der Landenteignung von Weißen einen Keil in den dünnen Kitt, der Südafrika zusammenhält."

Die Zeit lässt den Historiker Michael Wolffsohn und den Ex-Linken-Politiker Jan van Aken, der heute für die Rosa-Luxemburg-Stiftung tätig ist, darüber diskutieren, ob Deutschland Palästina als Staat anerkennen soll. Nicht jetzt, meint Wolffsohn: "Wir wissen aus der Geschichte der Entkolonialisierung, dass die vermeintliche Befreiung oft nur der Übergang von einer Form der Unterdrückung in eine andere war. Und genau das droht im Fall einer Anerkennung Palästinas, wenn die demokratische Verfasstheit keine Rolle spielt. Das kann man machen, aber dann soll man nicht sagen, das habe irgendetwas mit Moral oder Ethik zu tun." Aken widerspricht: "Das Völkerrecht ist eine zivilisatorische Errungenschaft und damit selbst ein sehr wichtiger Wert. Und wenn Deutschland sagen würde, nur lupenreine Demokratien werden als Staaten anerkannt, dann müssten wir sehr vielen Staaten die Staatlichkeit aberkennen."

Der israelische Schriftsteller Etgar Keret sendet im SZ-Feuilleton einen "Hilferuf" aus Israel. Der Vorwurf des Völkermords ist übertrieben, schreibt Keret, und doch hat es keine "verabscheuungswürdigere" Regierung in Israel gegeben, meint er: "Der Minister für Kommunikation beschlagnahmt Fotoausrüstungen bei der Agentur Associated Press. Der Finanzminister ruft zur 'völligen Zerstörung' von Rafah im Gazastreifen auf. Der Minister für nationale Sicherheit twittert 'Hamas liebt Biden', sein Fahrer missachtet eine rote Ampel und verletzt einen israelischen Bürger. Der Premierminister beantragt in Kriegszeiten eine Anhörung wegen der Renovierung des Swimmingpools in seinem Privathaus. Soldaten der israelischen Armee posten in den sozialen Medien Clips, in denen sie Korane verbrennen, höhnisch die Unterwäsche von Frauen aus dem Gazastreifen herumzeigen und Puppen aus Kinderzimmern rauben."

Aber Israel werden natürlich noch viel schlimmere Vorwürfe gemacht. Während es in den Zeitungen noch recht gesittet zugeht, toben auf Twitter die schwersten Anschuldigungen.

Anlass ist das Bombardement in Rafah am Sonntag, bei dem laut Hamas 45 Personen ums Leben kamen - grauenhafte Bilder zirkulieren in den sozialen Medien. Ziel des eigentlich als präzise geplanten Bombardements seien zwei Spitzenfunktionäre der Hamas gewesen, die auch tatsächlich getroffen wurden, heißt es. Israel untersucht den Vorfall (mehr hier), es gibt die Theorie, dass das verheerende Ausmaß der Bombardierung durch Sekundärexplosionen ausgelöst wurde, weil die Hamas in den Flüchtlingslagern Waffen lagert, aber noch ist das Geschehen natürlich nicht geklärt. Offenbar wurde einem Baby durch eine der Explosionen der Kopf abgetrennt oder zerstört - so dass es nun heißt, Israel köpfe Babies. Es gibt allerdings auch Medien, die Besonnenheit wahren, wie dieser Faktencheck des ZDF zeigt: Hier wird nachgewiesen, dass das Bombardement zumindest nicht in den von Israel designierten Schutzzonen stattfand.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.05.2024 - Politik

Langsam stellt sich heraus, dass es überhaupt keine Szenarien für den Gazastreifen nach dem Krieg gibt, stellt taz-Korrespondent Karim El-Gawhary fest: "Der Gazastreifen ist zwar zu weiten Teilen zerstört, nicht aber die Hamas. Und langsam macht sich die Erkenntnis breit, dass die israelische Besatzung und die totale israelische Sicherheitskontrolle im Gazastreifen wohl andauern werden und damit auch die Instabilität nicht nur für Israelis und Palästinenser, sondern für die gesamte Region."
Stichwörter: Gazastreifen

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.05.2024 - Politik

Der Politologe Daniel Marwecki vertritt in seinem Buch "Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson" die These, dass die Verhandlungen Deutschlands und Israels in der Adenauer-Zeit reiner Zweckrationalität folgten und nichts mit Wiedergutmachung zu tun hatten. Den Israelis hätten die deutschen Zahlungen vor allem als eine Art Anschubfinanzierung für ihren entstehenden Staat gedient. In der taz unterhalten sich heute Kersten Augustin und Daniel Bax mit dem Autor. Ausgeblendet wird laut Marwecki, dass Deutschland mit der Finanzierung Israels auch eine Mitschuld an der traurigen Lage der Palästinenser habe: "Bis 1967 war Westdeutschland Israels wichtigster Verbündeter. Der Sieg im Sechstagekrieg wäre ohne deutsche Hilfe in dieser Form wohl nicht möglich gewesen. Dieser Krieg führte zur Besetzung Ostjerusalems, des Westjordanlands, der Golanhöhen und Gazas. Wie auch immer man das bewertet - die Bundesrepublik spielt in diesem Konflikt eine größere Rolle, als im Allgemeinen angenommen wird."

Marwecki findet den Vergleich der Hamas mit den Nazis abstrus. Ein paar Seiten weiter in der taz hat Silke Mertins kein Problem damit, von "palästinensischen Islamofaschisten" zu sprechen. Sie wundert sich in einem Kommentar, dass "die Welt mittlerweile nur noch Israel an den Pranger" stellt: "Auch wenn die Hamas beispielsweise den Grenzübergang für humanitäre Hilfe mit Raketen beschießt, trägt sie offenbar keinerlei Verantwortung dafür, dass in Gaza gehungert wird. Und es ist dieser Diskussion geschuldet, dass Norwegen, Irland und Spanien nun einen nicht existierenden 'palästinensischen Staat' anerkannt haben - ein Schritt, den es ohne den 7. Oktober nicht gegeben hätte."

Der israelische Reporter Doron Kadosh berichtet auf Twitter von einem Tunnelsystem der Hamas, in dem die israelische Armee vier Leichen von Geiseln, darunter die der Deutschen Shani Louk, geborgen hat, die Ruhrbarone machen auf seinen Thread aufmerksam. Der Zugang zum Tunnel fand sich in einem UNRWA-Gebäude, das von Deutschland finanziert wurde. Die Bild berichtete und zitiert eine dürre Stellungnahme des auswärtigen Amtes: "Selbstverständlich fließen keine Mittel der Bundesregierung an Terrororganisationen wie die Hamas. Deutschland finanziert keinen Terror."


Stichwörter: Marwecki, Daniel, 7. Oktober

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.05.2024 - Politik

Gaza ist hierzulande überall präsent. Wofür sich niemand zu interessieren scheint, ist der Sudan. In einem wirklich sehr eindrucksvollen Interview mit dem Spiegel zeichnet Nathaniel Raymond vom Humanitarian Research Lab der Yale-Universität ein verheerendes Bild von der Situation in Al-Faschir, der Hauptstadt Nord-Darfurs, wo die islamistischen Milizen der Rapid Support Forces (RSF) mit der sudanesischen Armee (SAF) um die Macht ringen. "Der letzte Uno-Konvoi kam Ende April nach Al-Faschir. Seitdem kam kein Nachschub mehr. Und schon vor Ausbruch der Kämpfe starben beispielsweise im Zamzam Camp mindestens ein Dutzend Kinder am Tag an Mangelernährung. Es gab schon vor den Kämpfen Wasserknappheit und Stromausfälle. Menschen aßen Erdnussschalen und Gräser." Was den Bewohnern bevorsteht, wenn die RSF gewinnen, weiß die Welt seit dem Massaker von Al-Dschunaina: "Es ging vor allem um das Töten von Männern und Jungen. Aber auch von Frauen und Kindern. Es haben großflächig Vergewaltigungen stattgefunden. In einem Fall banden die RSF-Kämpfer eine Gruppe lebender Kinder zusammen und erschossen sie alle. Sie türmten die Leichen der Stadt zu so großen Stapeln auf, dass wir sie vom Weltraum aus, mit den Satelliten, die wir benutzen, sehen konnten."

"Sudan entwickelt sich zur größten Hungerkatastrophe seit Jahrzehnten", entsetzt sich in der SZ auch Arne Perras. "Mindestens sieben Millionen Menschen erleiden extremen Nahrungsmangel, das heißt: Sie können noch höchstens ein Drittel ihres Energiebedarfs decken." Regierungen oder die UN können dort wenig ausrichten, weil sie keinen Zugang zu der Region haben. Helfen könne man dennoch, meint Perras. "So wäre es schon von großem Nutzen, wenn das Internet wieder auf breiter Fläche funktionierte, um Geld mobil anzuweisen. Außerdem gibt es gut organisierte Hilfsnetzwerke an der Basis, die fantastische Arbeit leisten, soweit sie eben können. Es gilt, dieses Netz zu nutzen, wenn Hilfe in die Todeszonen gelangen soll."

Die Historikerin Fania Oz-Salzberger, Tochter von Amos Oz und eine der Stimmen der gemäßigten Linken in Israel, nimmt auf Twitter nochmal Stellung zur Entscheidung Irlands, Norwegens und Spaniens, das Land Palästina ohne Vorbedingungen anzuerkennen: "Die Formulierung 'Die Hamas vertritt nicht die Palästinenser' ist äußerst problematisch. Die Hamas ist tragischerweise immer noch die offizielle Regierung von Gaza. Die Hamas und ihre zahlreichen Freunde, auch hier auf X, sonnen sich bereits in der neuen Anerkennung. So wie die Dinge jetzt stehen, vertritt die Hamas Millionen von Palästinensern und es kann leicht geschehen, dass sie wiedergewählt wird, um das zukünftige freie Palästina zu regieren. Irland, Spanien und Norwegen haben zu diesem möglichen Szenario nichts zu sagen. Dieses Schweigen ist eine enorme Belohnung für die Hamas."

Andrew Fox, ehemaliger britischer Offizier, der unter anderem in Afghanistan gedient hat, behauptet in Tablet, dass die Israel Defense Forces (IDF) in Gaza ein strategisches Meisterstück abliefern - auch wenn es aus der Brille westlicher Länder nicht so aussieht. Aber die IDF wollten eben nicht den ganzen Gaza-Streifen befrieden und wieder aufbauen. Es gehe vor allem, die Hamas zu schwächen, wenn auch nicht komplett zu zerstören, denn dazu sei die Begeisterung der Gazaner für die Schlächter, die sie anführen, zu groß. Die wichtigsten Ziele der IDF seien es darum, die Hamas-Infrastrukturen - vor allem die Tunnel - zu zerstören und ein ein Kilometer breites Glacis hinter dem Grenzzaun zu schaffen. "Wenn es nach Israel geht, wird niemand in Gaza mehr in die Nähe der Grenze kommen. Ob sich Washington gegen diese Politik durchsetzen wird, bleibt jedoch abzuwarten, weshalb für Israel das wichtigste strategische Ziel in Gaza wohl darin besteht, die Internationalisierung des Streifens durch fantastische Pläne für 'den Tag danach' so weit wie möglich zu begrenzen."

Sehr kritisch sieht Alexander Haneke in der FAZ die Anklage des Internationalen Strafgerichtshof gegen Israel, das von der Hamas in Zwangslagen gebracht wird, die vom Chefankläger Karim Khan nicht mal benannt werden - denn dass die Hamas die Zivilbevölkerung als Schutzschild missbraucht, wird in der Klageschrift nicht erwähnt. "Es ist das Kalkül der Hamas, Israel in einen Vernichtungskrieg zu zwingen. Israel hat kein Interesse an zivilen Opfern. Im Gegenteil, von den Toten und dem steigenden Druck auf Israel profitiert nur die Hamas. Und "was ist verhältnismäßig, wenn Israel einen weiteren 7. Oktober nur verhindern kann, indem es die Hamas in den engen Gassen von Gaza vernichtet?"

Im Interview mit der NZZ kann der iranisch-österreichische Autor Amir Gudarzi einfach nicht verstehen, dass so viele Menschen - und vor allem Linke - hierzulande auf die Hamas-Propaganda hereinfallen und sie sogar übernehmen. Irritierend findet er es auch, dass sich diese Linke für Gräueltaten anderswo wenig interessiert: "Der Kampf der Frauen in Iran ging an dieser Linken jahrelang spurlos vorbei. Heute hört man den iranischen Ruf 'Frau, Leben, Freiheit' im Westen kaum noch." Auch die Uiguren in China interessieren die westliche Linke nicht. "Ich habe auch noch nie ein muslimisches Land gesehen, das als Protest die Beziehung zu China abbricht. Der Grund ist einfach: China ist zu groß, zu mächtig. Niemand traut sich da was zu machen. Die Türkei ist auch ein gutes Beispiel. Sie ist eine Besatzungsmacht und kolonialisiert gerade die kurdischen Gebiete in Syrien. Auch dagegen sehe ich - außer von den Kurden selbst - keine Proteste. Aber die Hamas hat Glück. Sie braucht gar keine Propaganda mehr zu machen: Die Demonstrierenden hier bei uns sind ihr Sprachrohr."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.05.2024 - Politik

Die Familien der Hamas-Geiseln haben gestern ein bisher unbekanntes Video freigegeben, das junge, von Hamas-Terroristen festgehaltene und misshandelte Frauen zeigt. Es handelt sich um unbewaffnete Wehrpflichtige, die im Schlaf von den Terroristen überrascht wurden, mehr etwa in der Jüdischen Allgemeinen. Das Video wurde aufgenommen, nachdem bereits einige ihrer Kameradinnen erschossen worden waren. In der Erläuterung zum Video heißt es: "Dieses Video, das von den body cameras der Hamas-Terroristen am 7. Oktober aufgenommen wurde, wurde bearbeitet und geschnitten, um die verstörendsten Szenen auszulassen, wie etwa die Bilder zahlreicher ermordeter junger Männer und Frauen auf dem Stützpunkt Nahal Oz und in dem Bunker, aus dem die Beobachterinnen entführt wurden."

Auch Fania Oz-Salzberger gibt auf Twitter Erläuterungen zu diesem Video. Hier als Screenshot einer jener Antwortposts, gegen die sie sich wehren muss.



Auf Twitter kursiert auch ein anderes Video, das die Situation vor dem oben gezeigten Video zeigt und das wir nur per Link einbinden. Den Frauen wird in diesem Moment klar, dass sie in der Falle sitzen und die israelische Armee sie nicht retten wird. Einige der Frauen, die hier zu sehen sind, sind in dem oben gezeigten Video bereits tot.

Ob das oben gezeigte Video wirklich an die Öffentlichkeit gehört, ist umstritten. Der französische Philosoph Raphael Enthoven befürwortet es auf Twitter: "Diese Bilder müssen gezeigt werden... Um den Begriff des 'Widerstandes' oder des 'legitimen Aufstands' besser ermessen zu können. Man muss diese Bilder zeigen, weil es Menschen gibt, die sagen, dass der 7. Oktober nicht einmal Terrorismus war."

Bei CNN begündet Ayelet Levy Shachar, Mutter der Geisel Naama Levy, warum sie der Veröffentlichung des Videos zugestimmt hat - unter anderem, weil israelische Regierungsmitglieder es nicht hatten sehen wollen. Die Angehörigen der Geiseln wollen den Druck auf die Regierung weiter erhöhen:


Antiisraelische Studenten der Humboldt Universität haben gestern das Institut für Sozialwissenschaften besetzt. Ihre Parolen sahen so aus:


Die Leitung der Humboldt-Uni erklärt sich laut dpa (hier in der SZ) zum "Dialog" bereit.

Währenddessen sieht sich Israel mit einer Klage des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit konfrontiert. Und die EU-Länder Irland, Spanien und Norwegen entschließen sich, Palästina als Staat anzuerkennen, ohne dass dieser Anerkennung ein Friedensschluss oder eine Vernichtung der Hamas vorangeht. "Die Anerkennung zäumt das Pferd von hinten auf. Zu viele Fragen bleiben offen", meint Lisa Schneider in der taz. Eine der vielen von den friedensbemühten EU-Staaten offen gelassenen Fragen: "Was soll mit den politischen Kräften in Palästina geschehen, die - im Gegensatz zur PLO - bis heute Israel nicht als Staat anerkennen? Was passiert, wenn diese Kräfte - wie bereits 2006 mit dem Wahlerfolg der Hamas geschehen - das Ruder in Palästina übernehmen? Und: Soll Palästina ein demilitarisierter Staat sein? Oder das Recht auf eigene Streitkräfte haben?" Aber die Hamas hat bereits ihre Freude über die Anerkennung bekundet, berichtet eine Autorenteam in der taz: "Die Anerkennung sei ein wichtiger Schritt 'zur Gründung eines palästinensischen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt'."

Der Völkerrechtler Stefan Talmon begrüßt die Klage des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Netanjahu im Gespräch mit Francesco Collini von Spiegel online: "Es gibt erhebliche Anhaltspunkte für die vorgeworfenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich selbst bin der Meinung, dass in diesem Fall das Kriegsverbrechen des vorsätzlichen Aushungerns der Zivilbevölkerung vorliegt. Diese Meinung wird auch von vielen anderen Juristinnen und Juristen geteilt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.05.2024 - Politik

"Der Schlächter von Teheran verlässt uns als Steak Tartare." Auch Charlie Hebdo trauert um den iranischen Präsidenten.


"Eine Ungeheuerlichkeit" und "völlig inakzeptabel" nennt Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, in der Jüdischen Allgemeinen den Antrag auf Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu und Yoav Gallant: "Es ist ein politischer Akt zur Isolierung Israels und kein juristisch begründbares Vorgehen. ... In Artikel 17 des Römischen Statutes des Internationalen Strafgerichtshof ist die Strafverfolgung gesperrt, wenn die nationalen Gerichte funktional sind. Der Nachweis, dass die israelische Justiz nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen, kann nicht erbracht werden. In der Vergangenheit hat die israelische Justiz sowohl Militärs als auch hochrangige Politiker verurteilt. Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass dies bei möglichen Rechtsverletzungen im aktuellen Gaza-Krieg anders sein könnte." Ähnlich sieht es Nikolas Busse in der FAZ.

Zur "Befriedung des Nahostkonflikts" haben die Anträge auf Haftbefehle des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs auf jeden Fall nicht beigetragen, das ist für Stefan Kornelius in der SZ klar. Erstens "zeugt es von realpolitischer Blindheit, ausgerechnet in diesem Augenblick den Krieg und die Hauptakteure mithilfe einer Anklage in die Schranken weisen zu wollen." Völlig unverständlich ist für den Kritiker "warum Khan die gewählten Vertreter eines Rechtsstaates mit seinem Haftbefehl auf dieselbe Stufe stellt wie die Anführer einer islamistisch-terroristischen Organisation. Die Verfolgungsbehörde hat sich rechtspositivistische Scheuklappen angelegt, wenn sie allein völkerrechtliche Tatbestände nebeneinanderlegt. Dabei blendet sie die gewaltige politische Folgewirkung dieser Gleichsetzung aus, die es schier unmöglich machen wird, eine befriedende Idee für diesen Konflikt zu entwickeln."

Der Historiker Timothy Garton Ash blickt in einem großen Essay auf Zeit online zurück auf 75 Jahre Deutsche Bundesrepublik und fragt: ""Großes Deutschland - was nun?" In welche Richtung soll Deutschland gehen - angesichts der Bedrohung durch Russland, dem Krieg in Gaza, der Abhängigkeit von China und der Schwächung der europäischen Demokratien durch rechte Populisten. Sicher ist für Ash: Deutschland ist "die Zentralmacht Europas" und muss dieser Aufgabe auch gerecht werden: "Solange noch kein bündiger Begriff geprägt ist, würde ich die Strategie, die Europa von Deutschland verlangt, als eine Gesamteuropapolitik beschreiben - eine Politik, die zusammenführt, was in der Vergangenheit die im Wesentlichen separate Europapolitik, also EU-Politik, und die Ostpolitik gewesen sind. Kann Deutschland die Gewichte in der Europäischen Union zugunsten eines echten strategischen Engagements für die Ukraine, Moldawien, den westlichen Balkan und Georgien verschieben? Kann es zu dem mutigen, innovativen Denken beitragen, das zur Reform der EU notwendig ist, um sie für eine neue große Erweiterung und zur Auseinandersetzung mit einer gefährlichen Welt vorzubereiten?"

In der SZ nimmt der Historiker Volker Weiß die "neue Rechte" unter die Lupe und stellt wenig überrascht fest: die "neue" unterscheidet sich nicht besonders von der "alten Rechten", vor allem, was ihre Vorstellung von "Männlichkeit" angeht. Er berichtet von einem Schlüsselerlebnis des Verlegers Götz Kubitschek, der eine Zufallsbekanntschaft in eine Moschee begleitete und das Erlebnis auf seinem Blog schilderte: "Es gebe, schreibt er, 'junge Männer, die vor allem unter Männern sein wollen, in starken Gruppen, im Einsatz. Wenn dagegen kein Kraut wächst, verlieren wir sie'. In diesem Erfahrungsprotokoll legt Kubitschek die Beweggründe für seine Arbeit offener dar als in vielen programmatischen Texten. Es ist die Angst, vor einem Gegner, dessen Männlichkeit nicht nur die Kultur, sondern den ethnischen Kern der Deutschen bedrohe. 'Nur Barbaren können sich verteidigen', heißt ein Titel seines Verlags. Das ist eine Aufforderung, sich dem Gegner anzugleichen. Im Islam, das hat er nun gesehen, kann der Mann unter Männern bleiben. Dort kennt man noch Ordnung, Befehl und zur Not auch Aufopferung."

Nur wenn die Diktaturen nicht überleben, hat die Menschheit eine Zukunft , ruft auf Zeit online der Kriegsberichterstatter Wolfgang Bauer. Wir müssten uns darüber klar werden: die Demokratien sind schwach, denn die mächtigen Diktaturen der Welt, vor allem China und Russland "haben die besseren Erfolgsaussichten. Sie haben einen langfristigen Plan. Sie bringen den Wahnsinn auf, während die Demokratien nicht den Willen haben", warnt Bauer - Europa "ist schlachtreif wie ein fettes Lamm". Dabei haben nur demokratische Systeme, die Möglichkeit, Krisen wie den Klimawandel zu bewältigen: "Die Autokratie ist dieser Aufgabe nicht gewachsen. Das liegt nicht daran, dass an ihrer Spitze bedingungslos böse Menschen sitzen. Das Modell Putin & Xi versagt bei der Steuerung von komplexen Technologien. Zu klein ist in diesen Systemen die Zahl derer, die Entscheidungen treffen. Die Autokratie schaltet die Selbstregulierungskraft unserer Gesellschaft aus, die dafür angstfreie Diskurse braucht, den Wettbewerb der Ideen, das kollektive Abwägen von Gewinnen und Verlusten. In der Autokratie werden schlechte Nachrichten nur schwerfällig nach oben durchgegeben."

Auch Perlentaucher-Kolumnist Richard Herzinger warnt: "China agiert dabei vorerst noch im Hintergrund. Schon bald aber könnte es mit seiner zunehmend fadenscheinigen Camouflage als friedliebender "Vermittler" endgültig vorbei sein."