12.04.2019. Literatur / Politische Bücher / Sachbücher
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Politische Bücher / Sachbücher
KulturgeschichteParis war die Kulturmetropole des 19. Jahrhunderts. Im
"Klang von Paris" feiert der
Zeit-Feuilletonredakteur
Volker Hagedorn sie auch als Hauptstadt der Musik, in der Komponisten wie
Rossini,
Offenbach,
Meyerbeer und Chopin das Kulturleben ebenso bestimmten wie Flaubert und Baudelaire oder Eugène Delacroix und Edouard Manet. In der
SZ bewundert Kristina Maidt-Zinke, mit welcher Eleganz Hagedorn seinem Protagonisten
Hector Berlioz durch das Paris der Künstler und Intellektuellen folgt, von der prächtigen Soiree im Stadtpalais in die Armenviertel hinter der Stadtmauer. Im
SWR bemerkt Christoph Vratz, dass Hagedorn Mentalitäten,
Stadthistorie und Musikgeschichte hier mit fiktionalen Elementen zu einer romanhaften Erzählung verzahnt, ohne jedoch die Gültigkeit zu konterkarieren.
Tagesspiegel-Kritiker Frederik Hanssen
beendet die Lektüre erschöpft, aber glücklich wie nach eben jenem
Sinnesrausch, dem die Pariser vor gut 150 Jahren permanent ausgesetzt waren.
Der in Prag geborene und in die USA emigrierte Literaturwissenschaftler
Peter Demetz blickt in seinem Buch
"Diktatoren im Kino" auf fast hundert Jahre Lebenserfahrung, Totalitarismus und Kinogeschichte zurück. Denn die großen Figuren der europäischen Dikaturen -
Hitler, Stalin, Mussolini - waren begeisterte Kinogänger, bevor sie die Filmproduktion ihrem Geschmack und ihrer Ideologie unterwarfen. Im
Dlf Kultur bewundert Marko Martin die
unerschöpfliche Neugier des Autors, von dem er viel über
Macht, Medien und Manipulation lernte. Auch
SZ und
FAZ loben das instruktive Buch.
Zu
Leonardo da Vincis fünfhundertstem Todestag am 2. Mai 2019 sind
etliche Neuerscheinungen bereits im vorigen Jahr erschienen. Die Kunsthistorikerin Kia Vahland legt jetzt mit ihrer Biografie
"Leonardo da Vinci und die Frauen" nach, die sich dem Renaissance-Künstler über dessen
Frauenporträts nähert. Denn Leonardo zeigte Frauen als individuelle Persönlichkeiten, von vorn oder im Halbprofil, die den Betrachter ansehen. "Leonardo da Vinci hat so viel für die Sichtbarkeit von Frauen getan wie kein anderer Maler", schreibt Vahland in ihrem Buch, das der
Dlf-Kritiker Florian Felix Weyh empfiehlt. Ebenfalls neu erschienen ist die Leonardo-Biografie des Historikers
Bernd Roeck "Leonardo. Der Mann, der alles wissen wollte" Im
Zeit-Interview
spricht Roeck über die Renaissance als großen Epochenumbruch, Hofkunst und den
pokernden Leonardo.
Seit die französische Kunsthistorikerin
Benedicte Savoy den ethnologischen Museen vorgeworfen hat, fast alle ihre Artefakte seien vom Geist des in der Sammlungszeit grassierenden Rassismus und Kolonialismus verseucht, ist die Museumswelt in Aufruhr. Gegen diese Vorwürfe kann man sich schwer verteidigen, denn natürlich gab es den Kolonialismus. Welches Artefakt unter welchen Umständen erworben wurde, lässt sich dagegen heute oft nur schwer nachweisen. Dem Kunsthistoriker
Horst Bredekamp ist der Vorwurf von Savoy zu pauschal. Es gab auch eine "liberale Ethnologie", erklärt er in seinem schmalen Büchlein
"Aby Warburg, der Indianer" wie sie
Aby Warburg oder
Franz Boas verkörperten. In der
FAZ lobt der Ethnologe Karl-Heinz Kohl das Buch, weil es zeigt, dass gerade Ethnologen
größte Achtung vor den Kulturgütern anderer Völker gehabt hätten. Ähnlich sieht es in der
SZ der Sozial- und Kulturanthropologe Thomas Hauschild, der hier liest, wie tief sich Warburg bei seinen Besuchen von Pueblo-Indianern in deren Kultur versenkte, "bis zum
Verlust der eigenen Standfläche", zitiert Hauschild den Autor. Für beide Kritiker eine Tradition, die anerkannt werden sollte.
LiteraturwissenschaftWar die Journalistin und
New-Yorker-Autorin
Maeve Brennan eine freigeistige Feministin, die erste Influencerin, eine tragisch gescheiterte Schriftstellerin oder alles in einem? In der
taz freut sich Katja Kullmann, dass die versierte Biografin Michaela Karl nun auch der schillernden Maeve Brennan eine Biografie widmet, und findet
"Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen" aktuell, relevant und wunderbar pointiert erzählt. In der
Welt weiß Delius, wie attraktiv für eine Biografie die Verbindung von
Geist und Glamour ist, stört sich aber an der "Aneinanderreihung von Stil-Anekdoten und Frauenzeitschriften-Bonmots". Der Altphilologe
Daniel Mendelsohn schrieb bisher ebenfalls für den
New Yorker, jetzt wird er Chefredakteur der
New York Review of Books. In seiner
"Odyssee" begibt er sich mit seinem
mürrischen alten Vater auf eine Mittelmeerkreuzfahrt, auf die Spuren Homers und die Suche nach einem gemeinsamen Ankerplatz. Wahre Literatur handelt vom Leben, ruft eine begeisterte Eva Hepper im
Dlf Kultur. Auch
FAZ-Kritiker Uwe Walter hat das Buch mit Gewinn gelesen: Schon die philologische und mythologische
Erläuterung des Epos scheint ihm höchst lehrreich und bereichernd. Ebenso die Passagen, in denen der Autor über eigene Bildungsstationen und sein Vaterverhältnis im Abgleich mit der Homerischen Konstellation
Laertes-
Odysseus-
Telemachos berichtet.
Architektur / BauhausVon den neuen Büchern zum
Bauhaus-Jubiläum ist keines auf einhellige Begeisterung gestoßen. Am interessantesten fanden die Rezensentinnen noch
Jana Revedins Roman über
Ise Frank "Jeder nennt mich hier Frau Bauhaus" der die Journalistin aus dem Schatten ihres Mannes, des Bauhaus-Gründers Walter Gropius, holen will.
FR und
DlfKultur widmen dem Buch hymnische Besprechungen, aber die
taz hätte lieber eine Biografie gelesen, bei der sie weiß, was Fakt und was Fiktion ist. Zwiespältig aufgenommen wurden auch
Ursula Muschelers Band
"Mutter, Muse und Frau Bauhaus" der
Walter Gropius' problematisches Verhältnis zu seinen Frauen beleuchtet, und
Bernd Polsters Biografie
"Walter Gropius" die sich am "Mythos" des Architekten abarbeitet. Vielleicht wird ja demnächst
Fiona MacCarthys Biografie
"Walter Gropius: Visionary Founder of the Bauhaus" übersetzt, die in den britischen Medien durchweg gut besprochen wurde.
FotografieAls echte Entdeckung preist
taz-Kritikerin Brigitte Werneburg die Arbeiten der 1975 in Tiflis geborenen
Berliner Fotografin Benita Suchodrev. In
"48 Hours Blackpool" entwirft sie das liebevolle Porträt des britischen Küstenorts, der als erstes
Seebad für die englische Arbeiterklasse zum Pionier des Massentourismus wurde, mit Riesenrad und Eiffelturm, aufgebrezelten Teenagern und Hotdogs mampfenden Rentner. Großartig findet Werneburg Suchodrevs Bilder, ausdrucksstark, lebendig und herausfordernd. In der
Berliner Zeitung betrachtete Gunnar Lützow die Bilder in der gerade laufenden
Ausstellung mit Trauer, denn die Fotografin zeigte ihm, wie sich die Glücksversprechen in Blackpool reduzieren: auf Glücksspiel, eine Tüte Eis oder einen Ritt auf dem Esel. Gelobt wurde auch der Band
"On the Road" des Fotografen und C/O-Gründers
Stephan Erfurt, in dem etwa die
FAZ Konzentration und Stilwillen erkannte.
MathematikSehr hilfreich für alle Debatten um
Algorithmen,
Datensammelwut und
künstliche Intelligenz finden die Kritikerinnen das Buch
"Hello World" der britischen Mathematikerin
Hannah Fry und loben es als gut verständliche Einführung in eine komplexe Materie. Im
Guardian empfiehlt Katy Guest das Buch allen, die Algorithmen
fürchten, feiern oder ignorien. Grob gesagt können Algorithmen vier verschiedene Aufgaben erfüllen, lernt etwa
FAZ-Rezensent Alexander Armbruster: Sie priorisieren (Google), klassifizieren (Facebook), kombinieren (Parship) und filtern (Alexa), und gehen dabei entweder regelbasiert vor oder sie sind selbstlernend. Dass Fry auch selbstlernende Algorithmen nicht als echte KI bezeichnet, sondern nur als
revolutionäre Computerstatistik, findet Eva Weber-Guskar in der
SZ erfrischend und lobt die fast durchgehende Nüchternheit, mit der Fry die Luft aus etlichen Utopien wie Dystopien lässt. Im
Dlf fühlt sich Kim Kindermann zudem gut unterhalten. Hingewiesen sei aber auch noch einmal auf
Cathy O'Neils bahnbrechendes Buch
"Angriff der Algorithmen" von vor zwei Jahren.
PsychologieAuf
Michael Pollans Buch
"Verändere dein Bewusstsein" haben wir schon im Bücherbrief hingewiesen, aber wie der amerikanische Wissenschaftsjournalist darin die
Geschichte des LSD erzählt, die Wirkung bewusstseinserweiternder Drogen und ihre Zukunft in der Medizin erforscht, fasziniert die Kritiker nachhaltig. Im
taz-Interview
erklärt Pollan etwa, wie LSD neue Wege eröffnet: "Psychedelika wirken wie Neuschnee, der all die tiefen Furchen auffüllt, so dass Sie wieder frei in der Wahl der Route sind." Sehr wohlwollend wurde auch
Lothar Müllers Buch über
"Freuds Dinge" aufgenommen, in dem der
SZ-Literaturkritiker gewohnt gelehrt die Objektwelt des obersten Psychoanalytikers und Traumdeuters erkundet. Sehr anregend fanden die Rezensenten auch
Uffa Jensens globale Geschichte der Psychoanalyse
"Wie die Couch nach Kalkutta kam" die dem indischen Einfluss auf das
koloniale Bewusstsein nachspürt.
WirtschaftEin großes Werk sehen die Kritiker in
Werner Plumpes Geschichte des Kapitalismus. In
"Das kalte Herz" fließen jahrzehntelange Auseinandersetzung des Frankfurter Sozialhistorikers mit der Wirtschaftsgeschichte, den klassischen Theorien und neuer Literatur ein. Laut Plumpe verdankt sich die kapitalistische Wirtschaftsweise weder dem höfischen Luxuskonsum noch der protestantischen Arbeitsethik, sondern der
Roggenkultur, der
freien Grundherrschaft und einer wachsenden Bevölkerung. In der
SZ schreibt der Soziologe Dirk Baecker voller Bewunderung über diese Arbeit, die ihm auch darlegte, dass der Kapitalismus mit seiner Massenproduktion eigentlich recht warmherzig sei, weil er eine
Ökonomie der armen Leute für arme Leute sei. In der
Welt findet Marc Reichwein das Werk in all seiner kritischen Reflektiertheit einfach famos und bedauert nur, dass Plumpe nicht etwas anschaulicher erzählt. Klüger und kompetenter hat er jedenfalls lange nicht über den Kapitalismus gelesen.
Sehr beeindruckt haben die Kritiker
Elizabeth Andersons Buch
"Private Regierungen" gelesen. Die amerikanische Philosophin erinnert in diesem Essay daran, dass
der freie Markt den liberalen Theoretikern einst das Ideal war, das die Menschen auch
aus feudalen Arbeitsverhältnissen befreien sollte. Von egalitären Beziehungen kann seit der Industrialisierung und vor allem in der amerikanischen Arbeitswelt keine Rede mehr sein, meint Anderson. Mit
Adam Smith gegen Ausbeutung zu argumentieren, gefällt nicht nur Cord Riechelmann in der
taz ausnehmend gut. Auch in der
FAZ findet Friedemann Bieber Andersons Position gegen die
Unfreiheit des Menschen in der Arbeitswelt überzeugend, wenn auch rhetorisch mitunter etwas zu drastisch. Hingewiesen sei schließlich auch noch auf
Paul Colliers Plädoyer für einen
"Sozialen Kapitalismus" Collier setzt auf
Industriepolitik und die Schaffung von Arbeitsplätzen vor allem in ländlichen Regionen. In der
FAZ kann sich Mona Jaeger diesem Plädoyer nur anschließen.
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