Essay

Ein super Nicht-Chef

Von Eleonore Büning
08.08.2016. Nach seiner Zeit bei der taz und der Vogue gastierte Widmann auch eine Zeitlang als Kulturchef bei der Zeit. Es gab ein phantastisches Chaos, und wir hatten sehr viel Spaß. Von Eleonore Büning
In meiner relativ kurzen Zeit bei der Zeit habe ich vier verschiedene Feuilletonchefs erlebt, in vier Jahren. Einer davon, der vorvorletzte, war, 1995 bis 1996, Arno Widmann. Ich erfuhr, dass er es werden solle, inoffiziell, bevor die Nachricht es in die Konferenz schaffte, als Robert Leicht, damals Chefredakteur, mich in meinem Musikredakteursstübchen besuchte, wie er es öfters tat, teils, um mich aufzumuntern, teils, weil er an musikalischen Dingen grundsätzlich interessierter war, als man es sonst von Chefredakteuren gewöhnt ist. Leicht spielte sogar Orgel. Er besaß eine wirklich imponierende Heimorgel, die er den Gästen bei Einladungen zum Dinner vorzuführen pflegte, und ich erinnere mich sehr gut an einen Abend, wo außer mir auch die damalige Hamburger Kultursenatorin Christina Weiss eine gute Weile in diesen Genuss kam, worauf freilich der Gast, den es hätte am meisten angehen können, John Eliot Gardiner, noch Chefdirigent des NDR-Sinfonieorchesters, freiwillig verzichtete, da er einerseits zu spät kam, andererseits noch vor dem Dessert gehen musste, was mir persönlich damals etwas unhöflich vorkam, was aber von ausgesuchter britischer oder auch hanseatischer Höflichkeit formvollendet akkompagniert wurde, von beiden Seiten. Das nur nebenbei.

Leicht also kam eines Tages bei mir herein und fragte, beiläufig und im Konjunktiv, was ich davon hielte, da ich ihn ja aus der taz kennte, sollte eventuell der Fall eintreten, dass Herr Widmann Nachfolger von Ulrich Greiner werde. Ich antwortete: "Auf jeden Fall wird das nicht langweilig." Was ich sonst noch gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Aber das habe ich gesagt, und es traf ein: Langweilig war es nicht eine Sekunde. Arno war ein Super-Nichtchef. Er war lustig, charmant und aufrichtig höflich, auf nichthanseatische Art. Er ließ alle Redakteure in Ruhe das machen, was sie gerade am liebsten machen wollten, in der Hoffnung, dass dann auch die besten Texte dabei herauskommen würden.

Alle liebten wir ihn dafür. Aber wir waren das natürlich nicht gewöhnt. Uns fehlte das Konferenzkorsett. Bei einer Wochenzeitung muss man bekanntlich eine Woche lang heftig und ernsthaft alles Mögliche für den Papierkorb arbeiten, bevor man anfängt, wirklich zu arbeiten. So ein Schreibwutaufschub verlangt harte Selbstverleugnung, die wiederum nach festen Ritualen verlangt, die Arno eigentlich nicht so mochte, obgleich er jederzeit zu jeder Konferenz bereit war, wenn man ihn nur um eine bat. Kurzum: Es gab ein phantastisches Chaos und wir hatten sehr viel Spaß, wovon auch die Sekretärinnen profitierten, die nun ebenfalls einfach in Ruhe gelassen wurden. Außer die Chefsekretärin, Frau Ursula Peiser-Lehrhoff. Sie hatte viel Kummer mit Arno.

Einmal wollte er über die Opernfestspiele im finnischen Savonnlinna berichten. Frau Peiser-Lehrhoff buchte ihm also eine Premierenkarte, einen Flug nach Helsinki und ein Hotel daselbst. Als Arno dort eintraf, stellte sich heraus, dass Finnland größer war, als Frau Peiser-Lehrhoff es diesem Land zugetraut hatte. Selbst ein Blitztaxi hätte Arno nicht rechtzeitig in die Vorstellung geschafft, Savonlinna liegt an der Ostküste, rund 340 Autokilometer von Helsinki entfernt. Also ging Arno zurück ins Hotel, er ging ins Bett, um zu lesen (vermute ich mal), und anderntags vor dem Rückflug noch rasch in eine Ausstellung (das weiß ich zuverlässig, weil er, statt über die Opernpremiere, über diese Helsinkische Ausstellung schrieb.)

Ein andermal traf die Kunstredakteurin Petra Kipphoff ihn im Foyer des Hotel Imperial in Wien. Sie wollte gerade ausgehen, fein gemacht, zu einer Vorstellung. Er kam gerade zur Tür herein, mit einer großen, schweren Plastiktüte. "Was machen Sie denn hier?" fragte sie. Arno zeigte ihr seine Tüte, sie war voller Bücher, er sagte: "Ich gehe jetzt ins Bett, lesen." Fast wäre Petra da ein bisschen neidisch geworden. Wie gesagt: Es war eine wirklich gute Zeit für das "Zeit"-Feuilleton. Als Arno Widmann dann Knall auf Fall von Leicht entlassen wurde, ohne dass der diesmal auch nur einen von uns, und sei es im Konjunktiv, um seine Meinung gefragt hätte, wurde es wieder sehr langweilig.