Intervention

Aggressiv-destruktive Beliebigkeit

Von Richard Herzinger
22.09.2023. Rechts? Links? Scheißegal. Die wohl kommende Liste Wagenknecht zeigt einerseits das zerstörerische Potenzial von Ideologien, andererseits aber auch, wie austauschbar die Versatzstücke einst vermeintlich konsistenter politischer Wahnsysteme geworden sind. In vielem ähneln die Aussagen Wagenknechts denen der AfD bis aufs Haar, natürlich vor allem in ihrem Putinismus. Auch auf der globalpolitischen Ebene erreicht die Verwischung der Gegensätze eine ungeahnte Dimension.
Welche Rolle spielt heute noch Ideologie? Zweifellos stellen ideologische Konstrukte nach wie vor einen mächtigen Handlungsantrieb mit gewaltigem Zerstörungspotenzial dar. Doch fügen sie sich meist nicht mehr in die geschlossenen Denksysteme, die autoritären und totalitären Bewegungen im 20. Jahrhundert eine vermeintlich konsistente, scheinwissenschaftliche oder metaphysische Begründung gaben. Heute suchen sich Demagogen aus den Trümmern dieser verheerend gescheiterten Ideologien willkürlich Versatzstücke heraus und setzen sie so zusammen, wie es sich zur Aufstachelung diffuser Ressentiments und Affekte am besten eignet.

Ein aktuelles Beispiel dafür bietet die deutsche Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, die voraussichtlich in Kürze eine eigene Partei gründen wird. Diese soll sowohl im Milieu des "linken" als auch des "rechten" Antiliberalismus und Anti-"Globalismus" auf Stimmenfang gehen. Aus dem Fundus der DDR-Diktatur hat Wagenknecht, ursprünglich eine dogmatische SED-Kommunistin, ihre Forderung nach einer weitestgehend staatlich kontrollierten Wirtschaft entlehnt. Mit ihrer Agitation gegen Einwanderung, gegen die EU als einem "Elitenprojekt", gegen Gender-Politik als Ausdruck eines vom Volk entfremdeten "linksliberalen Lifestyles" und mit ihrer Behauptung, vom "Mainstream" abweichende Meinungen würden in Deutschland "ausgegrenzt", liegt sie dagegen auf einer Linie mit der  rechtsnationalistischen "Alternative für Deutschland" (AfD).

Wenn Wagenknechts neue Partei Realität wird, erwächst der AfD, die sich mit bundesweiten Umfragewerten von über 20 Prozent in einem nie dagewesenen Höhenflug befindet, eine ernsthafte Konkurrenz - und zwar gerade, weil sich beide Gruppierungen in weiten Teilen zum Verwechseln ähnlich sehen. Besonders deutlich wird diese Deckungsgleichheit zwischen der "linken" Wagenknecht-Strömung und der "rechten" AfD an ihrer Ergebenheit  gegenüber dem putinistischen Russland, als dessen Propagandafilialen sie beide mit identischem Eifer fungieren.  

Wie ihr rechtsextremes Pendant machen Wagenknecht und ihre Anhänger gegen Waffenlieferungen an die Ukraine mobil und schüren dabei sowohl soziale als auch nationale Ressentiments, indem sie die Kosten für die Unterstützung des überfallenen Landes gegen fehlende Gelder für bedürftige Deutsche aufrechnen. Ebenfalls im Gleichklang mit der AfD fordert Wagenknecht, Deutschland müsse, um eine bezahlbare Energieversorgung der eigenen Bevölkerung zu sichern, wieder billiges russisches Gas kaufen und den "Wirtschaftskrieg gegen Russland" beenden. Und Verschwörungsfantasien über - mindestens -  eine Mitschuld der Nato am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine finden sich weitgehend gleichlautend bei der AfD wie im Wagenknecht-Lager.

Dass Bewegungen, die sich als links verstehen, nationalistische Affekte befeuern und Rechtsextremisten umgekehrt sozialistische Demagogie betreiben, ist indes kein neues historisches Phänomen. Heute aber hat die Austauschbarkeit von einst als unvereinbar betrachteten Ideologemen endemische Ausmaße angenommen. Das russische Regime und seine Einflussagenturen im Westen betreiben das Verwirrspiel der Ideologien systematisch, um die rationale Unterscheidungsfähigkeit zwischen Ideen grundsätzlich zu unterminieren und auf diese Weise die Sphäre des Ideellen insgesamt zu entwerten.

Es entsteht eine aggressiv-destruktive Beliebigkeit, die etwa zum Ausdruck kommt, wenn über ein Fünftel der Deutschen bereit ist, mit der AfD eine zunehmend offen völkisch-faschistische Partei zu wählen - nicht unbedingt, weil sie alle ihre extremistischen Positionen teilen, sondern weil sie die ideologischen Begründungen für die Fundamentalopposition dieser Partei gegen das "politische Establishment" für unwichtig halten. Dementsprechend können sich nach Einschätzung von Parteienforschern bis zur Hälfte der potenziellen AfD-Wähler ebenso gut vorstellen, für die vermeintlich "antifaschistische" Wagenknecht-Partei zu stimmen.

Auch auf der globalpolitischen Ebene erreicht die Verwischung der Gegensätze zwischen scheinbar antagonistischen Denksystemen und weltanschaulichen Traditionen eine ungeahnte Dimension. Der Iran, dessen theokratisches Regime von der apokalyptischen Erwartung einer anbrechenden Weltherrschaft des Islam angetrieben wird, Russland, das sich als Bastion und Retter des "christlichen Abendlands" aufspielt, und die atheistische Horrordiktatur Nordkoreas (die den Glauben an ein höheres Wesen freilich durch die Vergottung seines weltlichen Führers ersetzt hat) kennen keinerlei Berührungsängste mehr, wenn es um den Aufbau einer gemeinsamen globalen Kriegsfront gegen den verhassten Westen geht.

An dieser Phalanx wirkt auch das totalitäre chinesische Regime mit, das sein Festhalten an der marxistisch-leninistischen Ideologie mit einem extremen nationalistischen und kulturchauvinistischen Überlegenheitsanspruch verbindet. Diesem zufolge sei China dazu berufen, an der Spitze der gesamten Menschheit zu stehen und nach seinem Gutdünken über ihre Geschicke zu bestimmen. Dass diese Zielsetzung mit den Vorherrschaftsplänen der genannten anderen autoritären Mächte eigentlich nicht zusammenpasst, hindert sie alle nicht daran, ihre Reihen zwecks Zerstörung der westlichen Demokratien und einer auf universalen Rechten und Normen basierenden internationalen Ordnung immer fester zu schließen.

Ideologien, durch die der Welt eine einzige absolute Wahrheit aufgezwungen werden sollten, waren in ihrem Kern schon immer irrational und zerstörerisch. Heute aber machen sich die Betreiber einer grenzenlosen kriminellen Gewaltherrschaft nicht einmal mehr die Mühe, ihrem ideologischen Gebräu den Anschein von rational nachvollziehbarer Kohärenz zu geben. Ideologieproduktion betreiben sie lediglich, um sich ideelle Aufputschmittel zur Steigerung ihrer wahnhaften Eroberungs- und Vernichtungsgelüste zu verschaffen.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.