Im Kino
25 Ziegelsteine auf dem Kopf
Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
29.04.2021. Reha Erdems "Seni Buldum Ya" ist eine angemessen skurrile Reaktion auf die Härten des Pandemiealltags, ein luftige Groteske über zwei Filous, die ihre Mitmenschen über Zoom als "Department 4" abzuzocken versuchen. Das Berliner Arsenal 3 zeigt ab dem 1. Mai online Dokumentarfilme der ägyptischen Regisseurin Atteyat Al Abnoudy, die sich den abgehängten Menschen in den entlegensten Regionen ihres Heimatlandes widmete.Die Frage, wie das Kino auf solch eine Situation reagieren kann, ist weniger zynisch als weltfremd. Reha Erdem hat es dennoch geschafft, in Istanbul einen Film zu drehen. Einen Zoom-Film genauer gesagt. Was nun, mag man schnell einwenden, sicher nicht die originellste Idee der Welt ist. Ganz im Gegenteil steht zu vermuten, dass man das Selbstbespiegelungsgenre "Filmemacher_innen im Lockdown, die Laptopkamera adressierend" nach dem Ende von Corona mindestens genauso schnell abhaken wollen wird wie die Pandemie selbst.
Sie gehen dabei arbeitsteilig vor. Kerim hört sich, wo er nur kann, nach Gerüchten über entfernte Bekannte, Arbeitskolleg_innen, Nachbar_innen etc um, die möglicherweise gegen das eine oder andere Gesetz verstoßen haben; ein Ferienhaus ohne Genehmigung hochgezogen, eine archäologische Ausgrabung sabotiert, eine Dissertation plagiiert (wobei Felek da erst googlen muss, was das genau bedeutet) und so weiter. Felek wiederum hat in seiner Messiewohnung eine Ecke freigeräumt, an der Wand das Fantasielogo einer Fantasiebehörde ("Department 4") aufgehängt und davor einen Schreibtisch aufgebaut. Da sitzt er nun und zoomt mit den potentiellen Übeltäter_innen.
Guten Tag, dem Department ist da etwas zu Ohren gekommen, Ermittlungen sind bereits im Gang, wollen Sie sich dazu äußern, besser gleich reinen Tisch machen, und übrigens, eine Überweisung der Strafgebühren schafft die Sache schnell aus der Welt, ich gebe Ihnen am besten gleich die Kontodaten. In der Theorie ist der Plan genial, weil er sogar da Erfolg verspricht, wo er zunächst daneben zielt. Soll heißen: Selbst wenn an den Gerüchten, die Kerim aufgeschnappt hat, nichts dran ist, hat doch fast jede_r in seinem Leben irgendetwas angestellt, von dem das Department 4 lieber nichts wissen sollte. Eben deshalb bedarf es, das merkt Felek schnell, lediglich ein paar komplett unverbindlicher Suggestivfragen, um an die kleinen, dreckigen Geheimnisse und im nächsten Schritt hoffentlich auch an die "Strafgebühren" zu gelangen.
Auch Feleks Zoomkontakte sind mehrheitlich Frauen und die meisten Gespräche haben früher oder später etwas von einem Flirt. Das mag nicht immer komplett auf Gegenseitigkeit beruhen, aber aufdringlich wird niemand, alle sehnen sich auf die eine oder andere Art nach Nähe und haben vielleicht auch deshalb Nachsicht miteinander. Schließlich verliebt Felek sich sogar unsterblich. Das geht zwar schief und bringt ihn schließlich sogar um die Früchte seiner unredlichen Arbeit, aber das heißt noch lange nicht, dass er die kurzen Minuten seines Zoomglücks bereut.
"Seni Buldum Ya" ist oft sehr lustig und vielleicht obendrein eine angemessen skurrile Reaktion auf die Härten des Pandemiealltags. Das schönste am Film ist jedoch der auch atmosphärische Unernst der Unternehmung. Erdem ist sichtlich nicht daran interessiert, eine Konzeptkomödie durchzuexerzieren. Vielmehr ruft er ein paar Freundinnen und Freunde an - viele davon bekannte Stars im türkischen Film und Fernsehen - und dreht mit ihnen zusammen eine kleine, luftige Groteske, in der jede Menge Raum ist für Improvisation, schon auch ein wenig Leerlauf und viel Musik. Nicht die schlechteste Art, als Kulturschaffende_r auf einen Lockdown zu reagieren, möchte man dieser Tage mit Blick auf niemand Bestimmten anfügen.
Lukas Foerster
Seni Buldum Ya - Türkei 2021 - Regie: Reha Erdem - Darsteller: Serkan Keskin, Bülent Emin Yarar, Nihal Yalçın, Ezgi Mola, Taner Birsel, Tilbe Saran, Esra Bezen Bilgin - Laufzeit: 82 Minuten. "Seni Buldum Ya" auf Mubi.
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Drei frühe Kurzfilme von Al Abnoudy bilden einen Höhepunkt der Auswahl. Die sengenden Bilder von "Horse of Mud" (1971) zeigen die harte, schweißtreibende Arbeit, die mit einfachsten Mitteln in einer Ziegelmanufaktur unter offenem Himmel verrichtet wird. Drei Pferde stapfen, angetrieben von der Peitsche, durch den kniehohen Morast, um die Zutaten der Lehmziegel zu legieren, die im nächsten Arbeitsschritt von Mädchen und jungen Frauen in Formen gepresst und zum Trocknen aufgereiht werden. Ein Vorarbeiter erklärt, dass die Mädchen im Durchschnitt 20, manchmal 25 Ziegelsteine zugleich auf dem Kopf balancieren - für den Film das Signal, den jungen Frauen das Wort zu erteilen. Sie träumen vom Kinobesuch und einer besseren Ausbildung, wünschen sich fort von diesem Ort. Wiederholt schneidet Al Abnoudy zurück auf das Bild des titelgebenden Schlammpferd, wie es sich mit Scheuklappen vor den Augen durch den Matsch kämpft: ein allegorisches Leitbild, in dem sich die Verhältnisse offen einbekennen, aber auch eine analogische Montage, die das Gemeinsame von Mensch und Tier hervorkehrt. Nach getaner Arbeit sehen wir die Arbeiterinnen bei der Toilette, während die Pferde sich zur Reinigung am Boden wälzen; zuletzt tummeln sich alle Beteiligten gemeinsam im nahe gelegenen Kanal. In der Schlusseinstellung macht sich eines der Pferde aus dem Staub und das Bild friert ein: Die Herabwürdigung des Menschen zum Lasttier läuft auf beider Befreiung hinaus.
In "The Sandwich" (1975) schmuggelt Al Abnoudy eine kleine Fiktion in ihr ansonsten dokumentarisches Werk. In einem beschaulichen Dorf 600 Kilometer südlich von Kairo, an dem der Schnellzug nach Luxor niemals halt macht, mischt sich der Film unter eine Gruppe von Kindern, die eine Herde von Ziegen und Schafen durch enge Gassen aufs offene Feld treiben und dabei so viel Staub aufwirbeln, dass sich das Bild mitunter ganz in ihm verliert. Das Brot, dessen mühsamer Herstellung durch die Frauen des Dorfs wir zu Beginn beiwohnen durften, wird später von einem der Jungen zur Mittagsjause verzehrt. Das Sandwich des Titels ist ein halbierter, ausgehöhlter Laib Brot, der die Milch aus dem Euter einer Ziege aufnimmt, während diese dem Jungen die andere Hälfte aus der Tasche stibitzt. Am Ende wird die Gesellschaft der Kinder, die etwas von der harten Brotarbeit weiß, zugleich aber eine spielerische Haltung wahrt, vom Gleissignal jäh aus der Mittagsruhe aufgeschreckt. Wenn der Zug aus der Hauptstadt an ihrer Welt vorbei rast, baumeln sie, den schemenhaften Passagieren hinter verdunkeltem Glas hinterher rufend, wie zum Geleit von der Bahnschranke.
Das übergreifendes Projekt einer subalternen, der Erfahrung und den stillen Kämpfe von Frauen gewidmeten Landesgeschichte setzt sich in Al Abnoudys späterem Schaffen fort: in Filmen über das Überleben im langen Schatten des Suez-Kanals, dessen koloniale und nachkoloniale Geschichte der Gewalt sich in den 1980er und 1990er Jahren in der Verdrängung der angestammten Bevölkerung durch Tourismusenklaven fortschreibt, oder in Porträts sudanesischer Migranten, die im Gefolge von al-Bashirs Machtergreifung ins benachbarte Ägypten flohen. Sie alle lohnen den Aufenthalt, vor allem aber das Frühwerk Al Abnoudys - dringliche, schwarzweißglühende Kleinode des engagierten Dokumentarfilms - muss man gesehen haben.
Nikolaus Perneczky
Filme von Atteyat Al Abnoudy sind zu sehen vom 1.5. bis zum 8.6. auf der Plattform Arsenal 3.
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