Vorgeblättert

Eric Rohmer: Elisabeth, Teil 3

09.12.2003.
Moulet warf Bernard einen Blick zu."Nicht zu verachten, deine Cousine. Gute Figur . . ."
"Na ja. Geht so."
"Aber es sieht komisch aus, wie sie so auf den Zehenspitzen trippelt und dabei die Arme abspreizt."
"Das macht sie nur, weil das Gras so hoch ist. Du hast einfach keine Ahnung."
"Ich sag ja nicht, dass das schlecht aussieht, nur irgendwie komisch."
"Und?", erwiderte Bernard.
"Nichts und." Moulet sah ihn an."Machst du Witze?
Stört dich das, wenn ich über sie rede?"
"Du bist wirklich bescheuert", sagte Bernard."Warum sollte mich das deiner Meinung nach stören?"
"Hehe! Wenn ich an deiner Stelle wäre, mein lieber Roby . . ."
"Was dann?"
"Hast du nie daran gedacht?"
"Nein. Nicht an das, was du meinst."
"Ach, ich vergaß. Ist ja deine Cousine."
"Red doch keinen Quatsch", sagte Bernard, "ich sehe sie doch bloß alle paar Jahre. Und ob Cousine oder nicht: Sie ist einfach nicht mein Typ."
"Wie auch immer", sagte Moulet."Sieht jedenfalls so aus, als wär sie ganz schön in Schwarz verknallt." 
"Du bist wirklich ein unglaublicher Idiot", sagte Bernard.
      "So was Bescheuertes. Und eins ist ja wohl sonnenklar: Du kennst Claire absolut nicht."
     "Ich habe doch bloß gesagt, sieht ziemlich vertraulich aus, wie die beiden miteinander umgehen, mehr nicht", sagte Moulet.
"Ich sag ja: Du kennst sie nicht", setzte Bernard nach.
"Wenn du wüsstest, wie egal ihr der Kerl ist. So?n Typ wie der. Meine Güte!"
"Hehe! Du bist ja verdammt gut informiert. Also doch eifersüchtig?"
"Idiot", sagte Bernard.
Die Wiese ging in einen schmalen Pfad über, der einige Meter an dichtem Gestrüpp entlanglief. Sie kamen nur mühsam voran, weil sie über glühend heiße, spitze Flusssteine balancieren mussten.
"Was für ein Scheißweg", rief Moulet. "Da kann man ja gleich durchs Wasser gehen. Nur wegen dieser . . ." 
"Vorsicht!", sagte Bernard.
"Was, wie bitte!?", sagte Moulet.
Als sie die nächste Wiese erreichten, die schmaler war, aber dafür saftig grün, lachte Moulet laut auf. "Also weißt du: An deiner Stelle würde ich?s bei der mal versuchen."           
"Das lässt dir keine Ruhe, was? Na, dann schnapp du sie dir doch! Was zögerst du noch? Los, ran!"
"Wieso ich?"
"Wer denn sonst? Los. Mach schon. Renn den beiden hinterher. Ich halte dich ganz sicher nicht davon ab. Vielleicht glaubst du mir dann endlich. Worauf wartest du?"      
"Du Idiot", sagte Moulet.
Er griff nach Bernards Arm.
"He. Sieh dir das mal an! Da hinter den Bäumen. Die Rote und die Blaue, da vorne."
"Die da?", fragte Bernard.
"Kennst du die?"
"Vielleicht. Kann ich nicht erkennen. Sind die was?" 
"Nicht schlecht, nicht schlecht. Ziemlicher Durchschnitt, aber . . .", Moulet machte eine eindeutige Geste.
"Meinst du, die sind von hier?"
"Und ob! So was nenn? ich richtige Provinzschnallen! Bei denen, da schnall ich einfach ab, gibt nichts Grässlicheres. Son?n Scheiß! Aber wir haben wohl keine Wahl!"
"Und was machen die so den ganzen Tag?"
"Keine Ahnung. Gehen jeden Samstag mit irgendwelchen kleinen Angestellten aus, alles schön geregelt. Den Rest der Zeit langweilen sie sich zu Tode. Arme Mädels!" Er hielt die Hände an den Mund und ahmte den Ruf eines Käuzchens nach. Dann rief er: "Amüsiert ihr euch? - Sieh mal, sie springen drauf an."
"Was ist?", rief die Rote übers Wasser.
Der Wind wehte von der Seite, und man verstand nur sehr schlecht, was sie sagte, obwohl der Fluss an dieser Stelle nicht breit war.
"Ich habe gefragt, ob ihr euch amüsiert", wiederholte Moulet.
"Geht so. Seid ihr schon im Wasser gewesen?"
"Noch nicht. Aber wir gehen gleich. Und ihr?"
"Wir waren schon", sagte die Blaue.
"Und? Geht ihr noch mal?"
"Nicht mit euch!"
Moulet drehte sich zu Bernard um."Was hat sie gesagt?" "'Nicht mit euch.' Tja, mein Lieber, die wollen dich nicht", sagte Bernard.
"Schwimmen wir rüber?", fragte Moulet.
"Nicht hier. Da brechen wir uns alle Knochen. Der Fluss ist hier voller Steine. Lass es uns weiter oben versuchen. Ich kenne da eine Stelle."
"Ihr geht schon wieder?", rief eins der Mädchen.
"Nein", sagte Bernard,"wir versuchen, weiter oben rüberzukommen."
"Wie findest du sie?", fragte Moulet.
"Die Blaue ist nicht hässlich. Aber sag mal, was macht die da auf der Erde?"
"Was macht deine Freundin da?", schrie Moulet.
"Ich such den Boden ab", rief die Blaue.
Bernard sah Moulet an."Was sagt sie da? Den Boden mit b oder mit h? Für einen Moment habe ich gedacht . . ." 
"Du bist ein Idiot." Moulet musste lachen.
"Was?", rief das Mädchen.
"Ich kann nicht sprechen. Der bringt mich dauernd zum Lachen."
"Wer, er?"
"Der hier natürlich. Roby, Vorname Bernard, wenn euch das lieber ist. Habt ihr was verloren?"
"Hast du was gefunden?"
"Nein. Aber ich kann mir ziemlich genau denken, was ihr vor nicht allzu langer Zeit verloren habt."
"Was meinst du damit?", rief die Rote.
"Ach. Das kann ich so in aller Öffentlichkeit nicht sagen.
Außerdem ist so was beim besten Willen nicht wiederzufinden."
"Wie bitte?"
"Mann, sind die schwer von Begriff", sagte Bernard."Ich wette, die hat?s nicht kapiert. Die lachen, ohne zu wissen worüber."
"Das wundert mich nicht", erwiderte Moulet."Ich sag?s ja: Provinzschnallen!"
Er lachte laut auf.
"Wir gehen da hinten rüber. Ja, noch etwas weiter. Da kann man sogar reinspringen."

"Ich stelle euch meinen Freund vor, Bernard Roby, der Ranschmeißer.
Mademoiselle Jacqueline . . ."
"Nennt mich einfach Jacqueline, ohne Mademoiselle", unterbrach sie.
"Und Mademoiselle Colette."
"Colette?"
"Moment. Ich glaube, ich hab sie gefunden. Ja, da ist sie", sagte Colette und richtete sich auf. Sie kam zu den andern.
"Nicht schlecht", sagte Moulet zu Bernard und sah ihn von der Seite an.
"Allerdings - War das nicht sehr . . . schmerzhaft?" 
"Nein. Die Sucherei hat nur lange gedauert. Aber jetzt hab ich gefunden, was ich gesucht habe", sagte Colette lachend und schüttelte den beiden Jungen die Hand."Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie froh ich bin." 
"Dinge gibt?s, die gibt?s gar nicht!", sagte Bernard. "Kannst du mir den Ablauf genauer beschreiben?"
"Wie bitte?"
"Ich meine, den Ablauf der Operation."
"Er meint das normale Rumgemache mit dem Dingsbums ", sagte Moulet.
"Das was?", fragte die Rote. Sie kicherte.
"Die hat?s immer noch nicht geschnallt", flüsterte Bernard Moulet ins Ohr.
"Allerdings!", sagte Moulet."Na ja, wie auch immer", fuhr er mit lauter Stimme fort."Ende gut, alles gut. Oder? Was meinst du, mein lieber Bernard?"
Moulet gab ihm einen Klaps auf den Rücken."Also, kommt ihr?"
"Wir gehen hoch auf die Wiese", sagte die Rote.
"Hm, nicht gerade toll, eure Wiese. Ganz schön voll hier die Ecke. Ich mag das nicht, wenn so viel los ist." 
"Da sind doch bloß Kinder."
"Drei laute Gören und ein Hund. Die drei und der Köter
macht vier. Und dann wir vier, macht acht. Oder zählen wir etwa nicht?"
"Er hält sich für enorm scharfsinnig", sagte Bernard.
"Du liebst offenbar die Einsamkeit", sagte die Blaue.
"Oh nein! Nicht unbedingt. Was ich mag . . . - gehen wir? -was ich mag, ist erlesene Gesellschaft. Hehe. Nicht wahr, mein lieber Roby? - Los, gehen wir endlich. Ab in die Sonne. Wir sind noch nass. Glaubt ihr nicht, wir sollten . . . Brr."
Moulet klapperte mit den Zähnen."Brr, rauf jetzt." 
Er fasste die Rote an den Schultern und schob sie vor sich her nach oben."Wir müssen uns nur hier hinlegen. Ach, diese Sonne! Ich habe am Ferienanfang gewettet, dass ich genauso braun werde wie das Ladenschild von Saffy." 
"Das Fahrradgeschäft?"
"Ja. Kennst du das? Dann weißt du ja, was ich meine. Aber bei diesem sch . . . also diesen Gewittern dieses Jahr bin ich immer noch so weiß wie der Hintern von . . . Ach, so was darf man ja nicht laut sagen!"
"Mann, was redest du da für einen Stuss", sagte Bernard.
Moulet stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.
"Entschuldigung", sagte er und wandte sich an die Blaue.
"Das ist bei mir so ein Reflex. Aber ich mach?s nicht wieder. Versprochen. Nächstes Mal, da lass ich mir lieber die Zunge in sieben Stücke hacken, bevor ich . . . Sagt man doch so, oder?"
"Was für ein Spinner", sagte die Blaue.
"Du hast wohl den ganzen Tag nichts zu tun", sagte er, während er sich dicht neben ihr im Gras ausstreckte. Er ließ seine Finger über ihren Arm wandern.
"Sieh sich einer diese Haut an. Oder hast du dich angemalt?"
Sie rückte ein wenig von ihm ab.
"Nein, das ist echt. Ich werde schnell braun. Du kannst ja mal bei Jacqueline nachschauen . . ."
"Lass mal sehen", sagte Moulet.
Er drehte sich auf den Bauch und legte dabei seinen nackten Fuß auf den Schenkel der Blauen. Er ergriff den Arm der Roten und hielt ihn sich vor die Augen.
"Du entschuldigst. Ich bin leider sehr kurzsichtig." 
"Und ziemlich aufdringlich", sagte die Blaue. Sie rückte von ihm ab und schob Moulets Bein mit ihrem Fuß zur Seite.          
"Oh, pardon! Ich Esel!", rief er und richtete sich auf, nur um sich erneut dicht neben sie zu setzen.
"Habe ich dir wehgetan? Aber sieh sich doch wirklich einer diese Haut an", fing er wieder an und streichelte ihren Arm mit dem Handrücken."Du musst doch mindestens zehn Stunden am Tag in der Sonne liegen." 
"Die haben anscheinend nichts Besseres zu tun", meinte Bernard.
"Und ihr? Mit welchen großartigen Dingen beschäftigt ihr euch?", fragte die Rote.
"Mit extrem zeitraubenden", sagte Moulet.
"Seid ihr Studenten?", fragte die Blaue.
"Studenten?", rief Moulet affektiert. "Wir sind einfache Abiturienten, Schmalspurabiturienten, wenn Ihr so wollt. Aber das ist nur ein kleiner Teil unserer wichtigen Geschäfte. Ein kleiner Zeitvertreib, eine Stunde alle zwei Wochen. Haha. Nicht wahr, Roby? Zumindest war das während des Schuljahres so. Jetzt, wo wir an der Uni aufgenommen worden sind . . . Aber ich meinte eigentlich eher Verpflichtungen
. . ."
" . . . weltläufiger Art", ergänzte Bernard.
"Genau. Wir bewegen uns im Zentrum gewisser Kreise . . ..
Kreise mehr oder weniger flüchtiger und doch ausgedehnter
Beziehungen . . . hochgradig divergierender Beziehungen, wenn ihr versteht."
"Aha", sagte die Blaue.
"Und da unser Ehrgeiz keine Grenzen kennt", fuhr Moulet ebenso affektiert fort,"haben wir den hehren Plan gefasst, diese Kreise Tag für Tag auszuweiten, gleichwohl wir unserem Vorhaben kaum je gerecht werden können. Ja, allerdings - kaum je ge- recht wer- den kön- nen."
Bei jeder Silbe tippte er mit den Fingerspitzen auf den Arm der Blauen."Jaja! Das Leben ist nicht immer lustig. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Das ist wie . . . Aua! Verdammt, diese Mücken. Vorsicht, da ist eine auf deinem Bein."
Er klatschte der Blauen auf den Oberschenkel.
"Oh. Hab ich dir wehgetan?"
Sie stieß ihn mit der Hand von sich.
"Lass mich in Ruhe!"
"Ich hab dir also wehgetan?", beharrte Moulet.
"Jetzt lass mich endlich in Ruhe. Du gehst mir wirklich auf die Nerven."
Er ließ von ihr ab.
"Ja, wie ich gesagt habe. Das Leben ist nicht immer lustig. Findet ihr nicht, dass es hier ziemlich langweilig ist? Wir sollten endlich wieder runter ans Wasser."
"Ja. Gehen wir", sagte Bernard."Wir haben hier oben schon genug Zeit verschwendet."
"Oh, seht euch diesen groben Klotz an. Man verschwendet nie Zeit in Gesellschaft junger Damen. Nicht wahr, Colette?"
"Kommt ihr?", fragte Bernard die Mädchen.
"Ich glaube, ihnen bleibt keine Wahl. Denn wie heißt es so schön: Sind sie nicht willig, so brauch ich Gewalt", sagte Moulet.
Sie zerrten jeder eins der Mädchen den Abhang herunter.
"Ihr seid Spinner", riefen die Mädchen und kreischten.
"Ah! Ich lache mich schlapp. Aber schreit nicht so laut. So, da wären wir. Man muss schon sagen, euch fehlt der gewisse Sinn für . . ."
Moulet beugte sich zu Bernards Ohr.
"Was flüstert er da?", fragte die Rote.
"Ich habe Bernard nur gesagt, er soll nicht zu früh in Triumphgeheul ausbrechen".
"Triumphgeheul?"
"Das ganze Trara eben. Ihr wisst schon. Er hält sich für unwiderstehlich, unser kleiner Bernard."
Er klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken.
"Gehen wir rein?", fragte Bernard.
"Bitte nach euch", sagte Moulet zu den Mädchen. "Nein. Macht ihr nur. Wir bleiben am Ufer. Wir können nicht so gut schwimmen", sagte die Blaue.
"Oh. Wir retten euch gerne."
"Also", fragte Bernard,"ja oder nein?"
"Warte mal", sagte Moulet,"Wir wenden einfach Gewalt an: Ich nehme die Beine, du die Schultern und eins, zwei hopp . . ."
Er ging auf die beiden Mädchen zu und fletschte die Zähne.
"Muuuh. Muuuh."
Die Mädchen wichen zurück.
"Oh. Sieh dir das an, Roby!" Er gab sich wieder normal. 
"Ich mach doch bloß Spaß. Hast du die Angst in ihren Gesichtern gesehen? Also ehrlich. Ihr habt wirklich keinen Sinn für das, was sich gehört."
Er sprang ins Wasser.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Rogner & Bernhard

Informationen zum Buch und Autor hier