9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Geschichte

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.05.2024 - Geschichte

In der Welt blickt der Nahost-Wissenschaftler Asiem El Difraoui auf die Geschichte Gazas, das immer wieder umkämpft wurde: "637 fiel Gaza in die Hände des legendären muslimischen Generals und Eroberers Ägyptens, Amr ibn al-As. Die byzantinische Garnison wurde getötet, aber die Bevölkerung verschont. Die meisten Christen konvertierten relativ schnell zum Islam. Nicht durch Zwangskonversion, sondern weil sich die Bevölkerung davon politische und finanzielle Vorteile versprach, und vor allem auch, weil der Islam zur schillernden Hochkultur der Region wurden. Die kleinere jüdische Gemeinde, die seit der hellenistischen Periode in Gaza und auch in der Stadt Rafah präsent war, zahlte die Schutzsteuer, die sie vom Militärdienst entband, die Dhimma, und wurde nicht behelligt. Gaza wurde übrigens nie im Konsens der jüdischen Gelehrten als Teil von Eretz Israel betrachtet, dem gemäß der Talmud biblischen Land von Israel. Die jüdische Gemeinschaft blühte unter muslimischer Herrschaft bis zu den Kreuzzügen auf."

In einem interessanten Hintergrundartikel für die FAZ geht der Zeithistoriker Martin Sabrow auf den Streit um Claudia Roths erinnerungspolitische Konzepte ein: "Offensichtlich steht in der allgemeinen Wahrnehmung mehr auf dem Spiel als die Finanzierung der Gedenkstättenarbeit. Es geht um die künftige Ausrichtung staatlicher Geschichtspolitik insgesamt." Sabrow erzählt, wie es überhaupt erst dazu kam, dass der Bund in diesen Fragen federführend ist - man musste nach dem Mauerfall übergreifende Konzepte finden. Aber "die eigentliche Brisanz des vorgelegten Entwurfs ergibt sich dadurch, dass er die Scheidelinie zwischen staatlichem Gedenken und öffentlichem Erinnern mit Aplomb übertritt. Die Behörde der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) hat aber keinen erinnerungskulturellen, sondern lediglich einen gedenkpolitischen Auftrag. Sie soll Einrichtungen von nationaler Bedeutung finanziell unterstützen, aber sie hat keine normativen Überlegungen anzustellen oder gar Initiativen zu ergreifen, wie die Gesellschaft sich ihrer Vergangenheit zu erinnern hat."

Weitere Artikel: Auf den Wissenschaftseiten des Tagesspiegels erinnert der Historiker Julius Schoeps an die Bücherverbrennung heute vor 91 Jahren.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.05.2024 - Geschichte

"Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist in den Dissertationen und Habilitationen stecken geblieben", beklagt die Schriftstellerin Anne Rabe in der SZ. So sei die in den Neuen Ländern eher verbreitete pro-russische Haltung auch Ausdruck mangelnder Verarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte: "Doch das ist keine Angelegenheit, die nur den Osten betrifft und keine, die nur der Osten verbockt hat. Es ist die Folge politischer Entscheidungen. Auch westdeutsche Politiker wie Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble argumentierten gegen eine umfassende Aufarbeitung, um den Transformationsprozess nicht zu stören. Und es ist die Folge eines arroganten Desinteresses im Westen. Die Opfer des Stalinismus waren nur so lange interessant, wie man mit dem Gedenken an sie die DDR verhöhnen konnte. Mit der Wiedervereinigung verschwand der 17. Juni als Feiertag in der Bundesrepublik geräuschlos."
Stichwörter: Ostdeutschland, DDR

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.05.2024 - Geschichte

Heute vor fünfzig Jahren trat Willy Brandt in Folge der "Affäre Guillaume" zurück. In der SZ erinnert sich dessen Sohn Matthias Brandt an einen Vater, der am Abend des 07. Mai 1974 lachend vom Fernseher saß. Einer wie Brandt fehlt heute, kommentiert Nils Minkmar ebenda: "Die langfristige Folge des Rücktritts Brandts für die politische Kultur Deutschlands ist nicht zu übersehen: Nie wieder hat es nach ihm ein Kanzler oder eine Kanzlerin zugelassen, als intellektuelle und zweifelnde, nachdenkliche Person zu gelten, die zugleich keine Scheu vor den schönen Seiten des Lebens zeigt. Mitten in der politischen Krise der SPD, die seinem Rücktritt vorausging, lud die Bundestagsfraktion die Schriftsteller Günter Grass, Thaddäus Troll und Heinrich Böll zum Austausch. Böll sagte anschließend, offenbar sei es gerade Mode, Brandt 'fertigzumachen'. Nie wieder sollten Schriftsteller in Deutschland eine solch politische Rolle spielen. Nach seinem Rücktritt am 7. Mai vor 50 Jahren galt die von Brandt verkörperte geistige und politische Kreativität, die Verhältnisse hinterfragt und ändern möchte, als frühes Symptom von Schwäche. Ihm folgten im Amt des Kanzlers ein Macher, ein Aussitzer oder Kombinationen davon."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2024 - Geschichte

Katrin Gänsler besucht für die taz die Stadt Ouidah in Benin, wo immer mehr Gedenkorte entstehen, die an den transatlantischen Sklavenhandel erinnern. Sie spricht mit dem Journalisten Guy Dalbert Aguidissou, der auch den afrikanischen Anteil nicht beschweigt: "Wer etwa Handwerker und nützlich für das Königreich Dahomey war, wurde nicht nach Amerika verschleppt, sondern musste hier Zwangsarbeit verrichten. Aguidissou macht keinen Hehl daraus, dass an der Sklaverei europäische Nationen ebenso beteiligt waren wie das einstige Königreich Dahomey, das Kriegsgefangene versklavte und an europäische Händler verkaufte. Daran hatte bereits 1999 der damalige Präsident Mathieu Kérékou mit einer ungewöhnlichen Geste erinnert. Bei einer Reise in die USA besuchte er damals in Baltimore eine Kirche und entschuldigte sich bei Afro-Amerikaner:innen für die Rolle Afrikas im Sklavenhandel."

Außerdem: "Man tut der DDR kein Unrecht, wenn man ihr nachsagt, dass sie kein Rechtsstaat war. Sie wollte selbst kein solcher sein", schreibt der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Dieter Grimm auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.05.2024 - Geschichte

Eines der größten Verbrechen des britischen und später auch französischen, niederländischen und japanischen Kolonialismus kommt in den populäreren postkolonialen Diskursen kaum vor: Wie Britannien China anfixte und opium-abhängig machte und die Opium-Sucht sogar mit Kriegen, an denen sich auch die Deutschen beteiligten, durchsetzte. Die koreanisch-schweizerische Autorin Hoo Nam Seelmann kommt in der NZZ darauf zurück: "Jahr für Jahr gelangt mehr Opium nach China. Es beginnt eine große Verheerung, die Zahl der Abhängigen nimmt dramatisch zu. Der Versuch des Kaisers, den Schmuggel zu unterbinden, führte zu zwei Opiumkriegen (1839-1842, 1856-1860). China unterlag, musste Hongkong abtreten und hohe Reparationszahlungen leisten, weil es Tonnen von britischem Opium vernichtet hatte. Als folgenschwer erweist sich, dass China gezwungen wird, den Opiumhandel zu legalisieren und westliche Handelsleute ins Land zu lassen. Nun entwickelt sich China zu einem Eldorado des Opiumhandels, und Millionen Chinesen finden den Tod."
Stichwörter: Opiumkrieg, Kolonialismus

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.05.2024 - Geschichte

Das NS-Dokumentationszentrum München thematisiert in der Ausstellung "Rechtsterrorismus - Verschwörung und Selbstermächtigung - 1945 bis heute" die Kontinuität des rechtsextremen Terrorismus in Deutschland seit 1945, berichtet Chris Schinke in der taz. Es geht etwa um die NSU-Morde, die von Polizei und Medien lange Zeit einer angeblichen türkischen Mafia und sogar Angehörigen in die Schuhe geschoben wurden. Und um Halle. "Der Türrahmen des Synagogen-Eingangs von Halle hielt im Jahr 2019 dem Sprengsatz und dem Beschuss des Attentäters stand und verhinderte den geplanten Massenmord in der Synagoge. Für die Rechtsterror-Schau wurde der originale Türrahmen an den Münchner Ausstellungsort verbracht. Wie ein paar Zentimeter Holz allein einem noch weit schlimmeren Tatausgang im Wege standen, davon lässt das NS-Dokuzentrum so ein eindrückliches Bild entstehen. Auch das Massaker von Utoya und der Mordanschlag auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch finden Eingang in die thematisch überaus dichte Zusammenstellung."

In der NZZ stellt Ulrich M. Schmid den russischen Philosophen Iwan Iljin (1883-1954) vor, der Putins imperialistische Politik maßgeblich beeinflusst. Schlimm genug, aber ist er ein Faschist, wie der Historiker Timothy Snyder 2018 in der New York Review of Books erklärte? Jein, denkt sich Schmid. "Snyder stützt sich auf Iljins 'Briefe über den Faschismus' aus den Jahren 1925 und 1926, die er nach einer Italienreise verfasst hatte. In der Tat finden sich hier anerkennende Worte über den italienischen Faschismus, wohlgemerkt zu einer Zeit, als der Mord der Schwarzhemden am Sozialisten Giacomo Matteotti eine bekannte Tatsache war. Allerdings verschweigt Snyder in seiner Analyse, dass Iljin seine 'Briefe' in der Zeitschrift des liberalen Publizisten Peter Struve publizierte. Außerdem zitiert Snyder aus Iljins Artikel 'Über den russischen Faschismus' aus dem Jahr 1928 folgende Definition: 'Der Faschismus ist ein rettender Exzess einer patriotischen Willkür.' Jedoch unterschlägt Snyder Iljins nächsten Satz: 'Darin liegt sowohl seine Begründung als auch seine Gefährlichkeit.'" Es ist bei Iljin wie mit allem in Putins System, meint Schmid: Links und rechts haben keine Bedeutung mehr. Die russische Herrschaft "bedient sich eklektisch jener Elemente, die ihr nützen, und kümmert sich weder um den Herkunftskontext noch um die eigene ideologische Kohärenz". Mehr zu Iljin hier und hier.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2024 - Geschichte

In Geschichte der Gegenwart erinnern die Historiker Malika Rahal, Direktorin des Institut d'histoire du temps présent in Paris, und Fabrice Riceputi, Forscher am Institut d'histoire du temps présent sowie Co-Moderator der Website histoirecoloniale.net, an die Kriegsverbrechen des französischen Militärs in Algerien. Entschuldigungen Richtung Algerien interessieren dort weniger als eine "konkrete Aufarbeitung" der Geschehnisse, meinen die beiden, die sich genau dafür einsetzen: "Die Militärs unterlagen ab Januar 1957 keinen rechtlichen Beschränkungen mehr: Durchsuchungen, Verhaftungen, Gewahrsam und Verhöre fanden ohne juristische Aufsicht oder Kontrolle statt. Die Zahl der Verhaftungen explodierte und erreichte binnen sechs Monaten mehrere Zehntausend", von denen viele verschwanden. Wie nun lassen sich diese Verschwundenen ausfindig machen? U. a. durch das von Fabrice Riceputi gegründete Gemeinschaftsprojekt Mille autres. Des Maurices Audin par milliers: "Auf dieser, aus dem ersten Zeugenaufruf entstandenen Website werden fortlaufend die Fälle aus der Akte und die von den Familien ergänzten Informationen dokumentiert. Die Vermissten sind mit Namen, gegebenenfalls Foto und vorhandenen Infos gelistet, in der Hoffnung, dass sie von Angehörigen, Bekannten oder Nachbarn noch identifiziert werden. Zahlreiche Gespräche mit Zeugen konnten seither geführt werden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2024 - Geschichte

Die Polen waren im 20. Jahrhundert Opfer zweier totalitärer Regime. Doch prägt seit der PiS-Regierung ein "stagnierendes Pathos aus Heroismus und Märtyrertum" die polnischen Erinnerungspolitik, das verhinderte, auch polnische Verbrechen anzusprechen, konstatiert Ulrich M. Schmid in der NZZ. Die neue Regierung unter Donald Tusk versucht das zu ändern, wird aber zur Zeit noch von Präsident Andrzej Duda behindert, wogegen sich wiederum eine Reihe polnischer Historiker mit einem 'Brandbrief' richtete: "Sie wandten sich gegen das 'enge ethnische Verständnis des katholischen polnischen Volkes', das der Arbeit des IPN [das staatliche Institut für nationales Gedenken] zugrunde liege. Die Liste der Sündenfälle, die sie dem IPN vorwerfen, ist lang. Ein Mitarbeiter des IPN in Breslau (Wroclaw) war früher Mitglied einer rechtsradikalen Organisation. Auf Fotos war dokumentiert, wie er den römischen Gruß ausführte. Als Historiker präsentierte er die sogenannte Heiligkreuz-Brigade als patriotische Organisation, obwohl sie mit den Nazis kollaborierte und die polnische Heimatarmee bekämpfte. Zwei weitere Mitarbeiter des IPN behaupteten, die polnischen Juden im Jahr 1939 seien nicht Opfer, sondern Täter gewesen und hätten in den Ghettos bis 1941 deutlich besser gelebt als die polnische Bevölkerung. Ein anderer Mitarbeiter trat mit Vorträgen zum Thema 'Die bolschewistischen Wurzeln der Gender-Ideologie' auf."
Stichwörter: Polen, Erinnerungspolitik

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.04.2024 - Geschichte

In der Weimarer Republik wurde ein Verbotsverfahren gegen die NSDAP von der preußischen Regierung unter Otto Braun eingeleitet, schreibt Pitt von Bebenburg in der FR. "Die Reichsregierung und Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) lehnten es jedoch ab, gegen die Nazi-Partei und ihre Anführer vorzugehen. Monatelang antworteten sie auf Nachfragen der preußischen Regierung, dass die Frage noch geprüft werden. Dann ließen sie die Angelegenheit im Sande verlaufen. 'Die Ermittlungsverfahren gegen Hitler, Goebbels und die NSDAP wegen Verletzung der Strafbestimmungen über Hochverrat, staatsfeindliche Organisationen etc. wurden dadurch abgeschlossen, dass die Oberreichsanwaltschaft sie in Übereinstimmung mit dem Reichsjustizministerium im Juni 1932 einstellte', fasste einer der Autoren der Denkschrift zusammen: der preußische Jurist Robert Kempner, der nach dem Zweiten Weltkrieg zu den US-Anklägern in den Nürnberger Prozessen zählte (...). Die Entscheidung war ein gravierender Fehler mit schwerwiegenden Folgen, wie Kempner ausführte. 'Adolf Hitler und seine Nazi-Partei wären nie an die Macht gekommen, das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg hätte es nie gegeben', war er überzeugt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.04.2024 - Geschichte

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Hart geht Claudia Schwartz in der NZZ mit Claudia Roth ins Gericht, der sie vorwirft, vor Antisemitismus und Israelhass die Augen zu verschließen - sei es in Bezug auf Documenta und Berlinale, beim BDS-Beschluss des Bundestags oder jüngst mit ihrem Rahmenkonzept Erinnerungskultur: "Die deutsche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit war immer in Bewegung - es gibt die Geschichte des Nationalsozialismus, und es gibt die Geschichte seiner Aufarbeitung. Mit beiden machte jede Zeit ihre Politik. Der innenpolitische Konflikt erfährt seit Jahrzehnten immer wieder historische Umdeutung. Aufschlussreich zeigt dies Norbert Freis historische Darstellung 'Im Namen der Deutschen - Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit'. Seit der Nachkriegszeit und besonders intensiv nochmals nach der Wiedervereinigung war die 'neue Staatlichkeit' jeweils eng verbunden mit der Frage, wie es die Deutschen mit dem dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte halten. Wer die Erinnerungspolitik als überholt betrachtet, sollte sich gerade jetzt, wo die Sicherheit der jüdischen Bürger in Deutschland ein Dauerthema ist, nochmals vor Augen führen, gegen welche Widerstände das deutsche Bekenntnis zum Geschichtsbewusstsein eingefordert wurde."