9punkt - Die Debattenrundschau

Diese latente Bedrohung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.05.2024. Nein, die Berliner Republik ist nicht Weimar, aber den Vergleich ziehen die Zeitungen nach den jüngsten Ausbrüchen politischer Gewalt schon. Wie ist es zu erklären, dass der leidenschaftlichste Ausbruch studentischen Aktivismus' seit den 1960er Jahren der Delegitimierung Israels gilt, fragt der Autor Yossi Klein Halevi in der Times of Israel. Die Ruhrbarone lesen den eigentlich weggesperrten Bericht des Bundesinnenministeriums zur Muslimfeindlichkeit. "Muslim Interaktiv" und extreme Rechte sind Teile eines Problems, schreibt Volker Weiß in der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.05.2024 finden Sie hier

Ideen

Wie ist es zu erklären, "dass der leidenschaftlichste Ausbruch studentischen Aktivismus seit den 1960er Jahren der Delegitimierung der Geschichte des jüdischen Volkes gilt, das über die Vernichtung triumphiert hat", fragt der Autor Yossi Klein Halevi in einem sehr lesenswerten Essay auf den Seiten der Times of Israel. Das Wesen des heutigen Antisemitismus liegt für ihn in der "Leichtigkeit, mit der antizionistische Aktivisten es geschafft haben, den jüdischen Staat als genozidal und einen Nachfolger Nazideutschlands darzustellen und in der sich ein Versagen der Erziehung nach dem Holocaust" manifestiert, denn die Generation, die da demonstriert sei bestens über den Holocaust unterrichtet. Was hier angegriffen werde, sei "Integrität der jüdischen Geschichte der Nachkriegszeit, eines Volkes, das das Selbstmitleid der Opferrolle ablehnt und sich seinen unwahrscheinlichsten Traum erfüllt: sich in seiner Gebrochenheit in dem Land seiner Jugend zu erneuern. Der Übergang vom tiefsten Punkt, den die Juden je erlebt haben, zur Wiedererlangung von Macht und Selbstvertrauen ist eine der erstaunlichsten Überlebensleistungen nicht nur in der jüdischen, sondern in der Weltgeschichte. Es ist diese Geschichte, die auf liberalen Universitäten verzerrt, trivialisiert und dämonisiert wird."
Archiv: Ideen

Politik

Im Tagesspiegel-Gespräch nimmt Völkerrechtler Kai Ambos Stellung zum Apartheidsvorwurf gegenüber Israel, zu dem er auch kürzlich ein Buch veröffentlicht hat. "Objektiv spricht viel dafür, dass Israel ein Apartheidsystem im völkerrechtlichen Sinne unterhält." Es komme allerdings darauf an, ob man über Israels Grenzen von 1948 oder 1967 spricht. "Amnesty International wirft Israel ausnahmslos Apartheid seit der Staatsgründung vor, womit der Staat gleichsam zum Apartheidprojekt wird. Das halte ich für zu weitgehend. Ich beziehe mich nur auf die Zustände in den besetzten Gebieten, insbesondere im Westjordanland." Ambos kritisiert außerdem die Ausladung einiger Protagonisten der Israelkritik für den abgebrochenen Berliner Palästina-Kongress vor ein paar Wochen (Unsere Resümees).
Archiv: Politik

Europa

Wenn jemand gegen Putin protestiert, dann ist er wohl verrückt! Der unter Pseudonym schreibende russische Journalist Boris Klad schildert in der FAZ, wie unter Putin das Instrumentarium, das schon in den Siebzigern gegen Dissidenten eingesetzt wurde, wieder aus der Mottenkiste geholt wird. Für Putin hat es viele Vorteile, Regimegegner in psychiatrische Anstalten zu schicken: "Wenn Dissidenten für verrückt erklärt werden, gibt es weniger 'politische' Prozesse, die Fassade der Legalität ist leichter aufrechtzuerhalten. Außerdem kann man Dissidenten so leichter kontrollieren. Denn im Unterschied zum Gefängnis mit seinen klaren Regeln kann man in einer Spezialklinik beliebig lange festgehalten werden. So kann man Oppositionelle loswerden, die das Gefängnis womöglich nicht bricht. Mittels Psychopharmaka lassen sie sich in 'Gemüse' verwandeln."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Nein, die Berliner Republik ist nicht Weimar. Aber der taz-Autor Klaus Hillenbrand fühlt sich durch den gewalttätigen Angriff auf den Dresdner Poltiker Matthias Ecke und andere politische Gewalttaten gegen grüne und SPD-Politiker trotzdem an "die düsteren Zeiten um 1930" erinnert: "Es ist die enthemmte Gewalt, die alarmiert. Die Bereitschaft, politische Auseinandersetzungen mit der Faust zu führen. Der Konsens in der alten Bundesrepublik, dass so etwas bei Strafe der politischen Ächtung nicht statthaft ist, ist zerbrochen, das zeigen auch manche zynischen Reaktionen aus den Reihen der AfD. Und wenn auch rechts eingestellte Personen zu den Angegriffen zählen, so ist beim weit überwiegenden Teil aller Taten eine rechtsradikale Motivation der Täter naheliegend."

Den Weimar-Vergleich möchte der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) im SZ-Interview mit Jan Heidtmann in Bezug auf den Angriff auf Matthias Ecke nicht ziehen. "Das mit Weimar zu vergleichen, geht mir zu weit. Das sehe ich nicht so. Mein Befund ist aber auf eine andere Art nicht gut: Ich glaube, viele der Übergriffe sind nicht geplant, sondern spontane Aktionen. Das hat dann nichts mit Weimar zu tun, wo sich klar definierte Gruppen gegenüberstanden. Ich glaube, es ist vielmehr eine allgemeine Verrohung, die solche Angriffe leicht und jederzeit möglich macht. Diese latente Bedrohung ist polizeilich allerdings schwieriger zu beherrschen, als wenn wir eine harte Rechts-Links-Front hätten. Das Gefährliche an dieser Situation war vorhersehbar, der äußerste rechte Rand der Parteien verliert bei seinen Mitgliedern und Anhängern in vielen Bereichen zunehmend die Kontrolle."

Nach dem Attentat von Hanau ließ das Bundesinnenminsterium für 1,5 Millionen Euro von der Expertin Saba-Nur Cheema und anderen einen Bericht zur Muslimfeindlichkeit erstellen, der heute weggeperrt ist: Der Bericht enthielt Angriffe auf Diskursgegner, die vor Gericht als nicht statthaft verurteilt wurden. Jörg Metes konnte den Bericht trotzdem lesen und resümiert ihn für die Ruhrbarone. Nicht leugnen kann er, dass die Experten ein großes Potenzial für den Arbeitsmarkt offengelegt haben, denn das wichtigste seien die zu treffenden Maßnahmen: "Der Expertenkreis denkt an 'Präventions'-, an 'Integrations'- und an 'Interventionsmaßnahmen'. Er denkt an 'Bildungs'- und an 'Fortbildungs'- und an 'Sensibilisierungsmaßnahmen'. Er denkt an 'Aufklärungs'-, an 'Empowerment'-, an 'Mentoring'- und an 'Fördermaßnahmen'. Er denkt sogar an 'Handlungsmaßnahmen'. Und für die Durchführung braucht es natürlich die verstärkte Einbeziehung von Fachleuten. Und es braucht erst recht mehr Forschung zum Themenfeld Muslimfeindlichkeit. Es bedarf eines nachhaltigen Ausbaus dieser Forschung, und zwar durch einschlägige Professuren, Förderlinien und Studiengänge."

Gegen antiisraelische Äußerungen könnte bald stärker vorgegangen werden, das geht zumindest aus einem Briefwechsel zwischen Bundesinnenministerium und Bundesjustizministerium hervor, schreibt Ronen Steinke in der SZ. In dieser Frage sei Innenministerin Nancy Faeser sowieso schon ohne Zustimmung des Bundestages vorangeschritten: "Die Parole 'From the river to the sea, Palestine will be free' wurde Anfang November von Faesers Haus per ministerialer Verfügung zu einem Symbol der verbotenen Hamas erklärt. Die Folge ist, dass die Parole nun als Kennzeichen einer terroristischen Organisation gilt - strafbar nach Paragraf 86a des Strafgesetzbuchs mit Geldstrafe oder bis zu drei Jahren Haft. Es gibt in einzelnen Bundesländern schon erste Strafverfahren deswegen."

Die Gruppe "Muslim Interaktiv" ist schon lange aktiv, 2020 haben sie schon das Attentat in Hanau als anti-palästinensisches Attentat umgedeutet, erklärt der Historiker Volker Weiß in der SZ. "Die Agitatoren von Muslim Interaktiv beherrschen die Kunst, den eigenen Absolutheitsanspruch mit zivilgesellschaftlicher Toleranzrhetorik vorzutragen. Neben den Schildern, auf denen das Kalifat als Lösung aller Probleme gepriesen wird, werben sie für 'Diskurs' und prangern eine 'koloniale Ordnung' an. Ebenso virtuos wie die deutschen Rechten beherrschen sie die Opferrolle, sie klagen über 'Islamfeindlichkeit' und 'Unterdrückung' von Muslimen in der 'Wertediktatur' westlicher Demokratien. Indem sie ihre rigiden Religionsauslegungen und -praktiken mit denen 'der Muslime' gleichsetzen, werden Maßnahmen gegen den politischen Islam zur Repression gegen die gesamte Religion umgedeutet. So will sich die Kalifats-Ideologie unter der Fahne der Toleranz und Religionsfreiheit den Weg bahnen." Hier zeige sich auch, "wie lähmend der Identitätszirkus der letzten Jahre wirkt". "Die Lähmung wird nur aufgelöst werden, wenn religiöse und ethnozentristische Identitäre, politischer Islam und extreme Rechte als Teile desselben Problems erkannt werden."
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

Daniel Bax fürchtet in der taz, dass israelbezogener Antisemtismus nun doch nicht mehr gefördert werden soll und dass Berliner Kulturpolitik weiterhin eine "Antisemitismusklausel" verwirklichen will, die aber nur "im Kleingedruckten verschwinden" soll. "Ihre Wirkung würde sie aber behalten. Denn die Antisemitismusdefinition der 'International Holocaust Remembrance Alliance' (IHRA), auf die sich der Berliner Senat stützt, stuft auch Meinungsäußerungen als 'antisemitisch' ein, die nicht eindeutig antisemitisch oder gar strafbar sind - Boykottaufrufe gegen Israel zum Beispiel."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Antisemitismusklausel

Geschichte

Katrin Gänsler besucht für die taz die Stadt Ouidah in Benin, wo immer mehr Gedenkorte entstehen, die an den transatlantischen Sklavenhandel erinnern. Sie spricht mit dem Journalisten Guy Dalbert Aguidissou, der auch den afrikanischen Anteil nicht beschweigt: "Wer etwa Handwerker und nützlich für das Königreich Dahomey war, wurde nicht nach Amerika verschleppt, sondern musste hier Zwangsarbeit verrichten. Aguidissou macht keinen Hehl daraus, dass an der Sklaverei europäische Nationen ebenso beteiligt waren wie das einstige Königreich Dahomey, das Kriegsgefangene versklavte und an europäische Händler verkaufte. Daran hatte bereits 1999 der damalige Präsident Mathieu Kérékou mit einer ungewöhnlichen Geste erinnert. Bei einer Reise in die USA besuchte er damals in Baltimore eine Kirche und entschuldigte sich bei Afro-Amerikaner:innen für die Rolle Afrikas im Sklavenhandel."

Außerdem: "Man tut der DDR kein Unrecht, wenn man ihr nachsagt, dass sie kein Rechtsstaat war. Sie wollte selbst kein solcher sein", schreibt der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Dieter Grimm auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ.
Archiv: Geschichte