9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Politik

2124 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 213

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.05.2024 - Politik

Im Tagesspiegel-Gespräch mit Kai Müller und Anja Wehler-Schöck teilt der amerikanische Demokratieforscher Thomas Carothers seine Einschätzung zu den pro-palästinensischen Studentenprotesten in den USA. Die Demonstrationen könnten durchaus einen Einfluss auf die Wahlen haben, meint er. Zwar glaube er nicht, "dass die USA von ihrer grundsätzlichen Unterstützung für Israel abweichen werden. Aber US-Präsident Joe Biden und sein Team nehmen die Proteste durchaus ernst. Als er sich vergangene Woche dazu äußerte, zog er eine Grenze zwischen Demonstrationen, die legitim seien, und radikalen und gewalttätigen Aktionen, die Chaos stifteten. Ich sehe hier zweierlei Effekte auf den Wahlkampf. Zum einen, dass pro-palästinensische Menschen nicht für Biden stimmen. Das ist gefährlich bei einer Wahl, die so eng werden kann. Zum anderen, dass Bilder der Proteste von Bidens Gegnern genutzt werden, um den Präsidenten zu schwächen. Also zu suggerieren, dass das Land im Chaos läge und Biden die Kontrolle verloren habe."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.05.2024 - Politik

Buch in der Debatte

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Der an der Columbia University lehrende amerikanisch-palästinensische Historiker Rashid Khalidi hat gerade das Buch "Der Hundertjährige Krieg um Palästina" veröffentlicht. Im großen FR-Gespräch mit Hanno Hauenstein teilt er aus: Die Proteste an amerikanischen Universitäten seien keineswegs antisemitisch, findet er. Israel verurteilt er als "siedlungskoloniales Projekt". Außerdem müssten die Israelis Verhandlungen mit der Hamas führen, die sei schließlich demokratisch gewählt worden: Die Hamas habe von der windelweichen PLO "Die Fackel des bewaffneten Kampfes" übernommen. "Hätte die PLO erreicht, was sie anstrebte - einen palästinensischen Staat auf einem winzigen Teil von etwa 20 Prozent Palästinas - dann gäbe es die Hamas heute nicht. Die Hamas hat sich diesem Prozess widersetzt und war erfolgreich, auch weil ein unabhängiger, souveräner palästinensischer Staat im Rahmen des Oslo-Prozesses unter keinen Umständen verwirklicht werden konnte. Dieser Prozess führte zu einer Verstärkung der israelischen Besatzung und Kolonisierung, zu einer Verelendung des palästinensischen Volkes, zu einer Zerstückelung des Westjordanlandes in kleine Bantustans. Das ist es, was die Hamas zur Volksbewegung gemacht hat."

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Die antizionistische Welle an Universitäten und in den (sozialen) Medien überrascht die in der DDR aufgewachsene Autorin Mirna Funk, aktuelles Buch "Von Juden lernen", in der Welt nicht: "Im guten alten Kalten Krieg (…) hatten sich die Sowjets nämlich radikal dem Anti-Zionismus verschrieben und wollten durch Allianzen mit der arabischen Welt ein Gegengewicht zu den USA schaffen. Am Anfang, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war die Sowjetunion allerdings noch zionistisch und positiv gegenüber Israel eingestellt. Was daran lag, dass - und jetzt müssen alle auf beiden Seiten ganz stark sein - Israel ein sozialistischer Staat war. Im Übrigen blieb er das bis Anfang der Achtzigerjahre. (…) Als dann aber Israel im Laufe der Zeit stärker mit den USA kooperierte, platzte den Sowjets der Kragen. Sofort war Schluss mit lustig, und die israelischen Genossen waren keine Genossen mehr, sondern nur noch eine 'retrogressive nationalistische Bourgeoisie' und 'wurzellose Kosmopoliten'. Ganz besonders schlimm wurde es dann ab 1967. Sechstagekrieg. Da hatten die schwachen, muskellosen Juden doch plötzlich in Windeseile die arabischen Armeen niedergemäht, weil sie sich nicht ihrem imperialistischen Traum unterwerfen wollten. Na, so was! Da flippten sogar die Deutschen direkt aus. Wenn man sich Spiegel-Cover aus der Zeit anschaut, dreht sich einem der Magen um. Denn sich gegen Imperialismus wehren, das dürfen Juden nicht."

In der NZZ erinnert der amerikanische Historiker Andrew Preston indes an die ebenfalls an der Columbia University stattfindenden Proteste gegen den Vietnamkrieg im Jahr 1968, in deren Folge Präsident Lyndon B. Johnson zurücktrat. Für Preston sind die Parallelen zu heute offenkundig: "Wie 1968 spiegeln die heutigen Unruhen auf den Universitätsgeländen auch einen Konflikt innerhalb der amerikanischen Linken und Progressiven wider. Auf der einen Seite sind die Proteste eine linke Form der Gegenreaktion auf die anfänglich unbeirrte Unterstützung Israels durch einen demokratischen Präsidenten. Israel ist ein wichtiger strategischer Verbündeter der USA, und die Unterstützung des jüdischen Staates ist spätestens seit den 1960er Jahren fester Bestandteil der Demokratischen Partei. Damals unterstützte Lyndon Johnson das Land während des Krieges von 1967, bei dem das Westjordanland und der Gazastreifen unter israelische Kontrolle kamen. Doch trotz der jahrzehntelangen Unterstützung stehen die meisten heutigen Demokraten den derzeitigen israelischen Kriegsanstrengungen kritisch gegenüber und fordern einen sofortigen Waffenstillstand - unabhängig davon, was mit der Hamas geschieht."

Zur gleichen Zeit, als der Iran Israel angriff, erhöhte die iranische Regierung den Druck auf Frauen, die sich weigern, das Kopftuch zu tragen, berichtet Friederike Böge in der FAZ. "Es war der Beginn einer neuen Kampagne, die bis heute anhält. Der Sicherheitsrat hat sie 'Projekt Licht' getauft. Laut dem Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte gab es 'umfangreiche Festnahmen und Belästigungen von Frauen und Mädchen - viele von ihnen zwischen 15 und 17 Jahre alt'. An dem 'brutalen Vorgehen' seien Uniformierte und Polizisten in Zivil beteiligt. Auch Überwachungskameras würden eingesetzt. Zudem seien Hunderte Geschäfte und Unternehmen geschlossen worden, weil sie Frauen ohne Kopftuch bedient oder beschäftigt haben sollen. In den Monaten zuvor hatte sich die Sittenpolizei aus Sorge vor wütenden Reaktionen der Bevölkerung weitgehend zurückgehalten. ... Frauen in Teheran berichten am Telefon von einer neuen Atmosphäre der Angst. Eine Sprachwissenschaftlerin, die aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden will, erzählt von einer Freundin, die von der Sittenpolizei gezwungen wurde, immer wieder den Satz 'Das Blut in unseren Adern ist ein Geschenk an unseren Führer' zu wiederholen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2024 - Politik

Im Tagesspiegel-Gespräch nimmt Völkerrechtler Kai Ambos Stellung zum Apartheidsvorwurf gegenüber Israel, zu dem er auch kürzlich ein Buch veröffentlicht hat. "Objektiv spricht viel dafür, dass Israel ein Apartheidsystem im völkerrechtlichen Sinne unterhält." Es komme allerdings darauf an, ob man über Israels Grenzen von 1948 oder 1967 spricht. "Amnesty International wirft Israel ausnahmslos Apartheid seit der Staatsgründung vor, womit der Staat gleichsam zum Apartheidprojekt wird. Das halte ich für zu weitgehend. Ich beziehe mich nur auf die Zustände in den besetzten Gebieten, insbesondere im Westjordanland." Ambos kritisiert außerdem die Ausladung einiger Protagonisten der Israelkritik für den abgebrochenen Berliner Palästina-Kongress vor ein paar Wochen (Unsere Resümees).

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.05.2024 - Politik

"Gäbe es die Hamas nicht, wäre keiner dieser Menschen tot", sagt der Antisemitismusforscher Jeffrey Herf im Gespräch mit Jonathan Guggenberger von der taz, "Die Hamas hat vierzig Jahre lang klar und unverblümt gesagt, was sie mit Juden tun wird. In diesen vielen Jahren erhielten ihre Drohungen nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienten." Herf schildert in seinem neuesten Buch die drei Spielarten des Antisemitismus von links, rechts und von islamistischer Seite. Spätestens seit dem 7. Oktober hat sich für ihn eine unentwirrbare Mischung der drei Strömungen gezeigt: "Menschen, die sich selbst als links oder liberal betrachten, nehmen eine Organisation billigend in Kauf, die ihre Wurzeln in einer Mischung aus religiösem Fundamentalismus und dem Vernichtungsantisemitismus der Nazis hat. Die Hamas ist eine Bewegung der extremen Rechten: Ihre Auslegung der islamischen Religion ist islamistisch, ihre entsetzlichen Ansichten über Frauen, Queers, Juden und natürlich über die Demokratie sind rechts. Warum also machen sich junge Linke unkritisch für sie stark? Nun, sie definieren Israel als einen rassistischen Staat. Wer gegen Israel kämpft, muss also auf der richtigen Seite stehen."

Die Journalistin und Medienwissenschaftlerin Charlotte Misselwitz, mit einem jüdischen Israeli verheiratet, versucht ebenfalls in der taz eine mittlere Position zu beziehen. Eigentlich zähle sie sich zur "Ja,aber"-Fraktion: "Die Gewalt der Hamas war unverhältnismäßig, ja. Aber: Auch die Gewalt der Israelis in den vorherigen Kriegen in Gaza, ebenso wie im Jetzigen, ist unverhältnismäßig. Dieses 'Ja, Aber' kann ich nicht abstellen." Und dann das zweite Aber: Sie bekennt auch ihre Angst, "dass selbst die Progressiven im propalästinensischen Camp kein Zusammenleben mehr wollen. Dass sie die Hamas vielleicht doch gut finden." Und dann wieder ja, aber: "Ja, da ist das Sicherheitsbedürfnis der Israelis nach der Hamas-Attacke, da ist das Bedürfnis, die Täter bestraft zu sehen. Aber, da ist auch die Schuld angesichts der massiven zivilen Verluste durch diesen Krieg, das Wissen, dass auch dieser Krieg kaum mehr als Zerstörung bringt - und nicht die Zerstörung der Hamas. Da sind die viel höheren Todeszahlen in Gaza, der anhaltende Terror. Dann wieder gibt es die traumatischen Erinnerungen an die Pogrome, den Holocaust. Eigentlich müssten wir alle, im Herzen gebrochen, ein Ende der Gewalt fordern. Warum ist das nicht so?"

Außerdem: Patrick Bahners begrüßt in der FAZ ein neues amerikanisches Gesetz, das die Antisemitismusdefinition der "International Holocaust Remembrance Alliance" (IHRA) in Antidiskriminierungsklauseln übernimmt - obwohl ihm die Definition der "Jerusalemer Erklärung", die den Wunsch, Israel auszulöschen, als "nicht per se" antisemitisch definiert, womöglich noch lieber gewesen wäre.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.05.2024 - Politik

Die Debatte um Abtreibungsrechte wird einer der entscheidenden Faktoren der amerikanischen Wahlen 2024 sein, prophezeit die Amerika-Expertin Annika Brockschmidt in der taz. Das Dumme ist, dass die Republikaner hier in einem Zwiespalt sind, denn die Verbotsträume der Extremisten sind so radikal, dass sie sogar die republikanischen Wählerinnen abschrecken. Um die Debatte um ein Verbot zu umgehen, könnte man aber ein uraltes Gesetz wiederbeleben, so Brockschmidt: "Als 'Comstock Act' werden eine ganze Reihe von Gesetzen bezeichnet, die nach Anthony Comstock, einem religiösen Fanatiker, benannt sind. Der 'Comstock Act' verbietet den Versand 'obszöner' Materialien per Post. (...) Führende Stimmen der amerikanischen Rechten wollen den Comstock jetzt anwenden, um den Versand von Abtreibungspillen zu verbieten. Einer von ihnen ist Jonathan Mitchell, bis 2015 Republikaner-Generalanwalt von Texas, seitdem eine führende Stimme des juristischen Flügels der amerikanischen Rechten und Autor des drakonischen Abtreibungsverbots aus Texas von 2021, das auf Helfer ein Kopfgeld von 10.000 Dollar ausgesetzt hat. Er erklärte laut der New York Times: 'Wir brauchen kein landesweites Verbot, wenn wir Comstock haben.'"

Total sauer ist der Iran über die BBC-Dokumentation "Nika' Last Breath", die  erzählt, wie die 16-jährige Nika Schakarami im Kontext der "Frau Leben Freiheit"-Proteste gegen den Kopftuchzwang von der Sittenpolizei vergewaltigt und ermordet wurde. Laut einem dpa-Ticker in der FAZ plant die "iranische Staatsanwaltschaft juristische Schritte. Nach Angaben der Tageszeitung Shargh hat die Staatsanwaltschaft iranische Journalisten und Aktivisten, die den BBC-Bericht veröffentlicht oder im Internet gepostet haben, vorgeladen. Auf ihrem Webportal Mizan bezeichnete die Justiz den Bericht als 'große Lüge', mit der die BBC ihren internationalen Kredit verspielt habe.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.05.2024 - Politik

Der israelische Historiker Dror Wahrman macht sich in einem "Brief aus Israel" in der FAZ große Sorgen um die israelische Gesellschaft. Seit dem 7. Oktober und angesichts des fortdauernden Krieges schwinde der Zusammenhalt immer mehr, die Fronten verhärteten sich. Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen, meint Wahrmann, es stellt sich die bittere Erkenntnis ein, dass "Israel im Begriff ist, den Krieg zu verlieren. Wir sind - trotz der mantraartig verkündeten Parole des 'Vereint werden wir siegen' - nicht vereint, und ein Sieg ist nicht in Sicht… Der bemerkenswerte Erfolg beim Abfangen der Raketen und Drohnen, der ein altes Selbstbild von Mut und Tatkraft evoziert, kann die neue Existenzangst nicht schmälern. Nach Jahrzehnten, in denen jede Regierung die Bürger mit der Versicherung ruhigstellte, die Bestrebungen und Rechte der Palästinenser könnten auf alle Zeit ignoriert werden, vermag nur eine schmerzhafte Einsicht in die Grenzen militärischer Macht eine radikale Neuorientierung hinsichtlich der langfristigen politischen Lösungen herbeizuführen. Die Weltgemeinschaft sollte Israel dabei unterstützen - freundlich, aber streng."

Ebenfalls in der FAZ gibt Frauke Steffens einen Überblick über die Ereignisse auf dem Campus der Columbia-Universität, wo in der Nacht zum ersten Mai die Protest-Camps pro-palästinensischer Studierender von der Polizei geräumt wurden. Von vielen Seiten wird diese Entscheidung der Universitätspräsidentin Minouche Shafik kritisiert und als zu harsch verurteilt. Auf der anderen Seite stehen die Proteste wegen antisemitischer Losungen in der Kritik (unser Resümee): "Gestritten wird darüber, wie repräsentativ etwa ein Sprechgesang ist, der in der vergangenen Woche vor den Mauern des Columbia-Campus zu hören war: 'Hamas, mach uns stolz'. ... Allerdings tauchte von Khymani James, der anfangs als offizieller Vertreter der Studenten mehrere Pressekonferenzen gegeben hatte, ein Video auf, in dem er Juden aufs Übelste beschimpfte und sagte: 'Zionisten verdienen zu sterben.'"

Erleben die USA einen neuen "Vietnam-Moment" fragen Lukas Hermsmeier, Kerstin Kohlenberg, Maximilian Probst und Anna Sauerbrey angesichts der massiven Studentenproteste an der Columbia-University, aber auch an vielen weiteren Universitäten im Land? Vor allem die Studierenden selbst ziehen den Vergleich zu den 1968er-Protesten gegen den Vietnam-Krieg, so die Autoren, der hinkt allerdings unter anderem angesichts der antisemitischen und gewaltverherrlichenden Slogans, die skandiert werden. Für die Demokraten und Joe Biden könnten die Proteste allerdings zum Verhängnis werden: "Die Studenten beschimpfen ihn als 'Genocide Joe'. Überall, wo er auftaucht, ob auf einer Spendenveranstaltung in New York oder der großen jährlichen Veranstaltung der politischen Korrespondenten in Washington am Wochenende, wird demonstriert. ... Die Republikaner nutzen die Lage."

Israel wird nicht (nur) aus antisemitischen Gründen von der Linken gehasst: Postkoloniale Linke können es einfach nicht ertragen, dass ein demokratischer Staat wie Israel auch mal Gewalt anwenden muss, um seine Bevölkerung zu schützen, argumentiert die Soziologin Gesa Lindemann in einem ausführlichen Beitrag auf Zeit Online. "Das Problem besteht darin, dass innerhalb der Linken nahezu durchgängig der sachliche Zusammenhang von Gewalt, Vergesellschaftung und Gesellschaftskritik verfehlt wird. Soweit ich sehe, gibt es keinen plausiblen Grund anzunehmen, dass gesellschaftliche Ordnung ohne Gewalt überhaupt möglich ist. Wenn man sich dieser Realität stellt, geht es nicht darum, wie eine gewaltfreie Ordnung erreicht werden kann, in der alle in Frieden leben, sondern wie Gewalt geordnet wird und welche normativen Implikationen verschiedene Arten, Gewalt zu ordnen, für die Gesellschaft haben. In der Bearbeitung dieser Frage hat die Linke versagt. (...) Gewalt richtet sich gegen den leidensfähigen individuellen menschlichen Körper, dessen Freiheit und Würde. Gewalt ist dabei grundsätzlich als ein, wenn nicht das Übel zu begreifen."

In der Zeit schildert der Schriftsteller Maxim Biller sein Zusammentreffen mit dem New-York-Times-Journalisten Jason Farago und macht deutlich, warum er solch ein Interview wohl nicht mehr führen wird: "Sechs Wochen später erschien Jasons Artikel. Das rätselhaft falsche Bild, das er von Deutschland zeichnete, war das einer philosemitischen Halbdiktatur, in der allein das Flüstern des Wortes 'BDS' zur völligen Entrechtung und bald auch Deportation führte, wo angeblich die ehemalige Ökoaktivistin Greta gecancelt war, was immer das hieß. The failing New York Times? Vielleicht. Naziporno? Bestimmt. Und von meiner lustigen Deborah-Feldman-Beschimpfung natürlich keine Spur! 'Das wird mir mein Redakteur niemals erlauben', hatte Jason beim Abschied zu mir im Hackeschen Hof traurig gesagt, bevor er draußen in einer riesigen Wolke von amerikanischen Touristen hoffentlich für immer aus meinem Leben verschwand."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2024 - Politik

Moritz Pieczewski-Freimuth unterhält sich für hpd.de mit Emil Mink vom "Mideast Freedom Forum Berlin" (MFFB) über die Frage, warum die deutsche Politik oft nach wie vor eine so unscharfe Position zum iranischen Regime einnimmt und nicht mal einschlägige Organisationen als Terrororganisationen einstuft. Mink macht dafür unter anderem "Netzwerke regimetreuer Lobbyisten" in Thinktanks und regierungsnahe Organisationen mitverantwortlich: "Vergangenes Jahr hat eine Recherche des Oppositionssenders Iran International offen gelegt, dass 2014 während einer wichtigen Phase in den Verhandlungen um das Atomabkommen mit der Islamischen Republik ein regimetreues Netzwerk von Wissenschaftlern und Politikberatern ins Leben gerufen wurde, das die öffentliche Meinung in Nordamerika und Europa zu Gunsten des Regimes beeinflussen sollte. Zum Teil mit erheblichem Erfolg." Auch im Auswärtigen Amt habe das Netzwerk Einfluss - genauer wird Mink allerdings hier nicht.

Die Iraner wollen keinen Krieg gegen Israel führen, glaubt im Interview mit der taz der iranische Historiker Arash Azizi. Krieg sei viel zu unpopulär in der iranischen Bevölkerung. Ebenso wie die Unterdrückung der Protestbewegung, die wenige Stunden vor dem israelischen Raketenangriff auf Israel verstärkt wurde: "Seitdem gab es wieder viele Verhaftungen und Toomaj Salehi, der beliebte Rapper, wurde zum Tode verurteilt. Diese Einschüchterungstaktik ist besorgniserregend. ... Wie kann man Krieg gegen Israel und die iranischen Frauen am selben Tag beginnen?" Ingesamt seien die Iraner nicht besonders an den Palästinensern interessiert, meint Azizi: "Viele Iraner sind kritisch gegenüber der arabischen Welt. Sie sehen arabische Länder als traditionelle Rivalen Irans. Das Land wurde im siebten Jahrhundert von Arabern überfallen und hat eine sehr komplizierte historische Beziehung zu den arabischen Nachbarn. In der iranischen Gesellschaft gibt es wahrscheinlich mehr Feindseligkeit gegenüber Arabern als gegenüber Juden oder Israelis."

Der Krieg in Gaza spielt kaum jemandem so in die Hände wie dem Iran, meint der in Teheran geborene Schriftsteller Behzad Karim Khani in der SZ: "Netanjahus Koalition manövriert Israel mit ihrem Rache- und Vernichtungskrieg in Gaza derzeit immer weiter in die internationale Isolation und destabilisiert das Land auf eine Weise, wie es die Mullahs wohl niemals geschafft hatten." Dass das westliche "Klischee" vom "unberechenbaren" Iran nicht haltbar ist, dürfte "schnell auffallen, wenn man nur ein paar Beobachtungen macht und Fragen stellt: Weshalb hielt Iran in Russlands Tschetschenienkrieg dem Kreml die Treue, statt an der Seite seiner moslemischen Glaubensbrüder zu stehen? Warum finden in der iranischen China-Politik die moslemischen Uiguren nicht einmal Erwähnung? Warum unterstützte Iran im Konflikt zwischen dem schiitischen Aserbaidschan und Armenien die christlichen Armenier? Woher kommt die Nähe des Regimes zu den sozialistischen Ländern Venezuela oder Kuba, während doch Sozialisten in Iran verfolgt werden?"

Israel manövriert sich zunehmend in eine "Sackgasse", meinen auch Shimon Stein und Moshe Zimmermann in der FR: "Netanjahus Regierung blockiert - von einem Staat Palästina darf keine Rede sein, und die Autonomiebehörde käme nicht, auch wenn sie unter neuer Führung stünde, als Partner in Frage. Genau diese Haltung schuf ja die Situation, die den 7. Oktober möglich machte: Hamas auf Kosten der Autonomiebehörde starkzumachen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2024 - Politik

"'Wir machen euch fertig', rappte er. 'Sucht euch schon mal ein Rattenloch.'" Der Rapper Toomaj Salehi hatte keine Angst, dem iranischen Regime den Stinkefinger zu zeigen. Nachdem er bereits mehrmals im Gefängnis saß, ist er jetzt zum Tode verurteilt worden, berichtet Raphael Geiger in der SZ. "Wahrscheinlich ist es die Angstfreiheit der Rapper, öffentlich auf Instagram und Youtube, von der sich die Mullahs provoziert fühlen. Der erste Teilnehmer der Proteste, den das Regime hinrichten ließ, war Ende 2022 der Rapper Mohsen Shekari. Ein anderer, Saman Yasin, wurde zum Tod verurteilt, später begnadigt, im Gefängnis sitzt er noch immer. Er meldete sich kürzlich mit einem Brief: 'Nehmt endlich auch mein Leben', schrieb er. 'Beendet es.' Zeilen, die davon erzählen, wie es ihm geht - in der Zelle eines Regimes, das foltert und tötet. Allein 2023 sollen in Iran mindestens 834 Menschen hingerichtet worden sein."

Im Libanon wird es für die syrischen Flüchtlinge, die immer mehr werden, ungemütlich, berichtet Christoph Ehrhardt in der FAZ. "Das Schlagwort 'Zeitbombe' fällt immer wieder. Und auch westlichen Diplomaten und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen bereitet eines Sorge: die Demographie. Denn inzwischen bekommen schon jene Flüchtlinge Kinder, die einst selbst als Flüchtlingskinder gekommen sind. So wächst die syrische Bevölkerung in Libanon schneller als etwa die christlich-libanesische, was großes Unbehagen hervorruft. Demographische Fragen sind in Libanon hochpolitisch. Posten und Macht werden nach einem Proporzsystem unter Christen, Schiiten, Sunniten und Drusen verteilt. Die Libanesen haben auch den Zuwachs der palästinensischen Flüchtlinge im Kopf, die vor Jahrzehnten ins Land kamen. Anfangs waren es 3000, heute sind es hundertmal so viele. So gilt eine Integration der syrischen Flüchtlinge - anders als in der Türkei - als völlig ausgeschlossen. ... Allerdings leben inzwischen viele syrische Jugendliche im Land, die nur Libanon als ihre Heimat kennen. Wie sollen sie sich fühlen, wenn man ihnen zuruft, sie sollten nach Hause gehen? 'Sie werden nicht ewig hinnehmen, dass auf ihnen herumgetrampelt wird', heißt es von einer besorgten Stimme aus Beiruter Diplomatenkreisen. 'Gott bewahre, was passiert, wenn die Syrer anfangen, sich zu wehren.'"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.04.2024 - Politik

Der iranische Rapper Toomaj Salehi galt durch seine Songs und seine Präsenz auf Demonstrationen als eines der Symbole der "Frauen Leben Freiheit"-Bewegung. Das iranische Regime hat ihn jetzt zum Tod verurteilt, nachdem er schwer gefoltert worden war, berichtet Daniela Sepheri in der taz. Das Regime ließ auch ein Video mit einem erzwungenen Geständnis zirkulieren - oder versuchte es zumindest: "Das Video wurde aufwendig zusammengeschnitten, mit Bildern aus seinem letzten Musikvideo. Das Regime wollte die Protestbewegung dadurch demoralisieren. Doch Salehis Fans waren sich schnell einig: Dieser Folterbeweis sollte nicht verbreitet werden. Kaum jemand teilte das Material, sodass das Video bis heute schwer zu finden ist. Seine Anhänger*innen unterstützen ihn auch in schwierigsten Zeiten. Für sie ist er nach wie vor ein Held, ein Symbol der Protestbewegung."

Richard Herzinger erklärt in seiner jüngsten Perlentaucher-Kolumne, was unter "Lawfare" zu verstehen ist: Kriegsführung mit juristischen Mitteln, Staaten des "Globalen Südens" überziehen Demokratien mit Prozessen vor internationalen Gerichten, um sie zu diskreditieren: "So brachte jüngst Nicaragua die Dreistigkeit auf, Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof zu verklagen, weil sich dieses mit seiner Unterstützung für Israel der Beihilfe zum 'Völkermord' in Gaza schuldig mache. Nicaragua wird nicht nur von einem kleptokratischen Diktator, dem ehemaligen sandinistischen Revolutionsführer Daniel Ortega, beherrscht, der Oppositionelle und Abweichler brutal verfolgen lässt. Es gehört auch zu den wenigen Staaten, die in den UN gegen die Verurteilung des russischen Vernichtungskriegs in der Ukraine gestimmt haben."

Laut dem "Armed Conflict Location & Event Data Project" (ACLED) nimmt die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Gewaltkonflikten seit 2007 stetig zu, schreibt Judith Vorrath von der Stiftung Wissenschaft und Politik in der SZ und erklärt: "Die Bindewirkung des humanitären Völkerrechts scheint zu schwinden. Viele innerstaatliche Konflikte sind internationalisiert. Das heißt: Mindestens ein Drittstaat unterstützt eine Konfliktpartei. Zählt man die Konflikte, in denen dies direkt durch die Bereitstellung von Kampftruppen geschah, starben seit 2015 mehr Menschen in solchen bewaffneten Konflikten als in nicht-internationalisierten, darunter prominente Fälle wie Syrien oder Jemen, aber auch die Demokratische Republik Kongo. In einigen Fällen kann man von Stellvertreterkriegen sprechen; eine Rückkehr zur Logik des Kalten Krieges ist dies aber nicht. Vielmehr ringt neben Großmächten eine wachsende Zahl von mittleren Mächten um Einflusssphären, besonders in Afrika und dem Nahen Osten. Westliche Staaten haben nicht nur an Einfluss eingebüßt."
Stichwörter: Salehi, Toomaj

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.04.2024 - Politik

"Tax the rich", fordern in mehreren Medien, unter anderem im Spiegel und dem Guardian, die Politiker Carlos Cuerpo, Enoch Godongwana, Fernando Haddad und Svenja Schulze. Genauer: Sie fordern eine globale Steuer auf Milliardenvermögen: "Es ist an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft mit dem Kampf gegen Ungleichheit Ernst macht. ... Und genau mit diesen Zielen hat Brasilien als Mitglied der Gruppe der 20 (G20) zum ersten Mal einen Vorschlag für eine globale Mindestbesteuerung von Milliardären eingebracht. Sie stellt eine notwendige dritte Säule dar, um die Verhandlungen über die Besteuerung der Digitalwirtschaft und die globale Mindeststeuer von 15 Prozent für multinationale Unternehmen zu ergänzen. Der renommierte Ökonom Gabriel Zucman hat dargelegt, wie diese funktionieren könnte. Weltweit gibt es derzeit ungefähr 3.000 Milliardäre. Die Steuer könnte als Mindestabgabe in Höhe von zwei Prozent auf das Vermögen von Superreichen erhoben werden. Sie würde nicht für Milliardäre gelten, die bereits einen angemessenen Beitrag bei der Einkommenssteuer entrichten. All jene aber, denen es gelingt, Einkommenssteuern zu umgehen, würden so verpflichtet werden, mehr zum Gemeinwohl beizutragen."