9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

September 2023

Seit dreitausend Jahren und neun Monaten

30.09.2023. "Erstaunlich, wie schnell Macht sich verflüssigen kann", sagt der Historiker Christopher Clark, der in FR und Welt Parallelen zwischen dem Revolutionsjahr 1848 und der Gegenwart skizziert. Die Flucht der Armenier aus Bergkarabach ist nichts anderes als eine "ethnische Säuberung", schreibt die armenische Schriftstellerin Anna Davtyan in der FAS. Im Tagesspiegel warnt der Politologe Daniel Ziblatt die demokratischen Parteien davor, die Sprache der Rechtsextremen zu imitieren. Und in der Berliner Zeitung findet die Historikerin Hedwig Richter es unanständiger Fleisch zu essen, als das Brandenburger Tor zu beschmieren.

Seltsame Anziehungskraft

29.09.2023. Das mit der Polarisierung ist viel komplexer, als Kollege Andreas Reckwitz meint, sagt der Soziologe Steffen Mau im Spiegel: Die Gebildeten haben da die unteren Schichten noch nicht ganz verstanden. In der SZ spricht Karl Schlögel über die "American Matrix", die vor allem eine für die Sowjetunion war. Joe Biden war ein guter Präsident, aber er sollte gehen, so lange er noch kann, meint Timothy Garton Ash im Guardian.

Das Tempo ihrer Flucht

28.09.2023. In der Zeit antwortet Serhij Zhadan auf Navid Kermani: Die Ukrainer müssen sich wehren. "Wir haben es mit Völkermord zu tun, und wir sollten ihn auch so nennen." Yascha Mounk lässt sich auf Twitter nicht in die "Identitätsfalle" locken und verweigert jeglichen "strategischen Essenzialismus". Die taz erinnert an das Münchner Abkommen und den Verrat an den deutschen Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei.

Wenn das Inkassobüro klingelt

27.09.2023. "Der Blick, den Peking auf Demokratien hat, ist grundsätzlich konfrontativ", meint der Sinologe Frank Dikötter, der in der FR daran erinnert, dass US-Außenminister John F. Dulles China von seinem Plan einer "friedlichen Evolution" ausgeschlossen hatte. Von der Grundschule bis zum Uniabschluss wird Chinesen seit diesem Semester Xi Jinpings Lehre eingetrichtert, berichtet die FAZ. In der SZ erzählt die ukrainische Verlegerin Julia Orlowa, wie sensibel sie in Kriegszeiten beim Verlegen von Büchern vorgehen muss. Und die taz glaubt: Es ist die allgemeine Unsicherheit, die die Menschen in die Fänge von Rechtspopulisten treibt.

Vom akuten Treppentod bedroht

26.09.2023. Die taz erinnert an das Pogrom im anatolischen Sivas gegen Aleviten vor dreißig Jahren, bei dem 37 Menschen starben: Das Verfahren wurde jetzt eingestellt. Während Frauen im Iran ihr Leben riskieren, um das Kopftuch ablegen zu dürfen, errichtet Birmingham die Skulptur "The Strength of the Hijab", staunt die NZZ. China ist ähnlich bedrohlich wie die Klimakrise, meint im Tagesspiegel die Sinologin Janka Oertel. In der FAZ freut sich die Schriftstellerin Eva Lapido über die zunehmende Toleranz der deutschen Gesellschaft. Nur die German Angst, die vergeht nie, seufzt die SZ angesichts von 3500 Baunormen.

Neun karge Zeilen

25.09.2023. Im Tagesspiegel ruft Tatsiana Khomich, Schwester der seit Monaten in Belarus inhaftierten ukrainischen Oppositionellen Maria Kolesnikowa, die EU-Staaten zum Handeln auf. In der FAS fordert die Historikerin Christina Morina, endlich die Demokratiegeschichte der DDR anzuerkennen. Die SZ fragt, wie stark die Sinologie von China beeinflusst ist. Und in der FAZ fühlt sich der Politologe Peter Graf Kielmansegg ganz ohnmächtig angesichts der Dominanz der Grünen.

Dreißig russlandfreundliche Anträge

23.09.2023. Aus der AfD ist eine "Alternative für Russland" geworden, berichtet das Magazin correctiv.org, das die immer extremere Pro-Putin-Ausrichtung der AfD untersucht. Das "neutrale" Österreich steht der AfD kaum nach, berichtet die taz. Der Tagesspiegel beleuchtet Gleichschaltungen im polnischen Kulturbetrieb. In der SZ fordert die Religionswissenschaftlerin Rabia Kücüksahin, dass sich der Staat hinter Beamtinnen stellt, die das Kopftuch tragen wollen.

Vor allem aber hatte jedes Werk einen Schöpfer

22.09.2023. Das Herannahen der AfD erinnert die Lyrikerin Daniela Danz in der FAZ an den Meteor aus Lars von Triers "Melancholia": Ist die Katastrophe unausweichlich? Wie unabhängig ist Kulturjournalismus überhaupt noch? Der Musikjournalist Axel Brüggemann lotet die Krise am Beispiel der klassischen Musik aus - der Perlentaucher blättert ein Kapitel vor. Es gibt Cancel Culture nicht nur, sie ist sogar überall, sagt Julian Nida-Rümelin im Tagesspiegel. Erst wollen alle den Tod des Autors, dann tritt er durch KI wirklich ein, und es ist auch wieder nicht recht, konstatiert die SZ.

Europa endet dort, wo die Demokratie endet

21.09.2023. "Nicht nur der Ukraine rennt die Zeit davon. Es ist Europa, das freie Europa, das den Krieg zu verlieren droht", schreibt Navid Kermani in einem düsteren Zeit-Essay zur Lage im Krieg gegen die Ukraine. In Zeit und FAZ reagieren Hamed Abdel-Samad und Susanne Schröter auf Constantin Schreibers Ankündigung, nichts mehr über den Islam sagen zu wollen. In der NZZ fragt SaÏda Keller-Messahli, warum die Linke in Frankreich die Idee des Laizismus aufgegeben hat.

Konsequent außerhalb

20.09.2023. Nicht die Asylbewerber sind das Problem, sondern die extreme Rechte, die mit dem Thema ihr Süppchen kocht, meinen taz und SZ. In der Jüdischen Allgemeinen beteuert Hubert Aiwanger sein Engagement für die Jüdische Gemeinde und kritisiert ein weiteres Mal die Süddeutsche Zeitung. Das Konzentrationslager auf der Haifischinsel war nicht Auschwitz, aber ein Schritt auf dem Weg dorthin, sagt die Hannoveraner Archäologin Katja Lembke in der taz. In Zeit online verteidigt Philipp Sarasin Michel Foucault gegen den Vorwurf, er sei nicht links. Der Corriere trauert um Gianni Vattimo.

Nicht die erwünschten Effekte

19.09.2023. Die taz fragt: Warum sind wir über Giorgia Meloni erschrocken, die Italiener aber nicht? In der FAZ erinnert Thomas von Steinaecker  an die goldene Zeit des Radios und stellt uns Zwerge dann auf die Schultern der Riesen: Bald gibt's nur noch eine Kritik pro Buch. In der Welt erklärt Philipp Peyman Engel von der Jüdischen Allgemeinen, warum er nicht mit der AfD redet. Die Hagia Sophia ist wieder ein Ort für die Gläubigen, hält diesen aber kaum stand, berichtet der Tagesspiegel. Qantara beschreibt die üble Menschenrechtslage in Ägypten.

Das Schreiben, diese große Erfindung

18.09.2023. In der FAZ warnt der Soziologe Oliver Nachtwey vor einer "Liste Wagenknecht", die rinks und lechts nur vermischen und damit der Rechten in die Hände spielen werde. In der SZ verbindet die Ethikerin und Theologin Anna Puzio ihr Seelenheil mit Künstlicher Intelligenz. Frankreich streitet laut Le Monde über eine Rechtschreibreform. Die FR erzählt, wie die Linke sich 1848 gegen den Parlamentarismus zusammenrottete, damit Schleswig deutsch wird.

Menschen, die sagen, was die Mehrheit verschweigt

16.09.2023. Anna Politkowskaja hatte schon vor zwanzig Jahren über den Putinismus aufgeklärt. Ihre Tochter Vera versucht in der taz zu verstehen, warum die westliche Politik nicht auf sie hörte. Wenn die hannoveranische SPD Gerhard Schröder feiert, dann feiert sie auch seine Russland-Politik, so die FAZ. Das iranische Volk wird den Mullahs die Straße nicht mehr überlassen, hofft Amir Hassan Cheheltan ebenfalls in der FAZ. Der Tagesspiegel erklärt, wie sich das Regime dennoch stabilisiert. taz und FAS versuchen zu verstehen, wie es war, in der DDR jüdisch zu sein. Im Perlentaucher fragt Lacy Kornitzer, wie wir die AfD möglich machen.

Das Mittel des Aufschreis

15.09.2023. Seit einem Jahr kämpfen iranische Frauen todesmutig um ihre Rechte. Wo bleibt eigentlich Ihre "feministische Außenpolitik", Frau Baerbock, fragt Norbert  Röttgen in der taz. Karl Schlögel ist nach Charkiw gereist und berichtet für die Welt.  Es dürfte schwierig werden, der AfD eine Parteistiftung vorzuenthalten, fürchtet die taz, nachdem sie ein für die Bundesregierung angefertigtes Gutachten gelesen hat. Sind die Münchner Olympia-Attentäter mit Hilfe deutscher Behörden freigepresst worden, fragt die SZ. Im Freitag unterhalten sich Bernd Stegemann und Mithu Sanyal über Identität. Zum Fall Constantin Schreiber gibt es sehr unterschiedliche Kommentare.

Dieser postfaschistische Komödiantenstadl

14.09.2023. Constantin Schreiber hat sich in einigen Büchern kritisch mit dem Islam auseinandergesetzt. Nach Drohungen und einem Tortenattentat, sagt er in der Zeit: "Ich werde mich zu allem, was mit dem Islam auch nur im Entferntesten zu tun hat, nicht mehr äußern." Müssen sich die Deutschen wirklich um alles selber kümmern, sogar um ihre Entnazifizierung, fragt ein entnervter Maxim Biller ebenfalls in der Zeit. Die AfD-Politikerin Alice Weidel sagt, sie sei nicht queer. Die FAZ gibt ihr recht. Der Journalist Axel Brüggemann hat sich kritisch über den SWR geäußert - und verliert seine SWR-Kolumne.

Die Mykologische Gesellschaft schlug Alarm

13.09.2023. Am 16. September jährt sich der Todestag Dschina Mahsa Aminis. Und die taz verrät, woran die Mullahs am wenigsten glaubten: an den Märtyrerkult. Die einfachsten Akte werden im Iran zu Freiheitsbeweisen, führt die Autorin Fariba Vafi im Tagesspiegel aus: Führt jemand seinen Hund spazieren, so fordert er Respekt für sein Haustier. Wo die Angst wächst, da wächst, äh, die Esoterik auch, schreibt Tillmann Bendikowski in der SZ. Wie populistisch ist die Entgegensetzung von "Volk" und "Eliten" fragen FAZ und Ruhrbarone.

Die Chinesen pflegen die Silberrücken

12.09.2023. In Deutschland läuft es schlecht? Da müssten Sie mal nach Frankreich, Kanada, Estland oder Finnland gucken, meint die FAZ. Naja, und in Nigeria läuft es auch nicht so gut, ergänzt hpd.de. Optimistisch sein darf eigentlich nur die Generation Z, die reichste Generation, die es jemals in Deutschland gegeben hat, findet die Welt. Die Welt recherchiert auch zu dubiosen Kontakten zwischen der CSU und China. Aber China ist nur eines von fünf Imperien, die hoffen, den versagenden Westen zu besiegen, fürchtet Bernard-Henri Lévy.

Wo ist hier der Sinn für Dringlichkeit?

11.09.2023. In der NZZ warnt der Charlie-Hebdo-Anwalt Richard Malka vor einem Blasphemiegesetz, wie es in Dänemark diskutiert wird: Religiöser Respekt hat keine Grenzen. In Spon versucht uns Biograf Walter Isaacson Genie und Marotten Elon Musks zu erklären. Die taz schlägt der Linken vor, es doch mal mit humaner Realpolitik zu probieren. Die Berliner Zeitung erzählt, wie die Rückgabe von Benin-Bronzen zu einem Machtkampf in Nigeria führt. FAZ und FR erinnern an den Militärputsch in Chile vor fünfzig Jahren.

Augenblicke, in denen die Realität auch wirklich ist

09.09.2023. "Als Russe wird man mit Gewalt gestopft wie eine französische Gans", schreibt Boris Schumatsky, der in der FAS den Zusammenhang von Gewalt und "Heimatliebe" schildert. In der NZZ schreibt Asli Erdogan über die Schmerzen des Exils. Seit Corona ist das Grundvertrauen in unsere Welt zerstört, diagnostiziert Hartmut Rosa in der SZ. Und bei vielen AfD-Wählern führt das zu einer "nihilistischen Wut", meint der Soziologe Philipp Rhein in der taz. Mit der Titanic steckt das nächste linke Medium in der Krise, den rechten Blättern geht's dagegen prächtig, warnt die taz.

Angst. Angst. Und Druck. Druck

08.09.2023. Jürgen Roth erzählt in der FAZ, wie ihn kriminell eingesetzte KI zu einer Marionette machte. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn sich Indien demnächst in Bharat umbenennt, meint die Welt: Aber wie weit soll die Dekolonisierung noch gehen, erstreckt sie sich demnächst auch auf das metrische System? In der NZZ schreibt Pascal Bruckner einen Nachruf auf die  Russlandhistorikerin Hélène Carrère d'Encausse, deren Geschichte nebenbei das französische Trauma der Kollaboration illustriert. hpd.de zeigt, wie die neuen amerikanischen Abtreibungsgesetze die Sterblichkeitsrate von Müttern steigen lässt.

Zuwachs von vier Prozent

07.09.2023. In der NZZ berichtet Irina Rastorgujewa über den historischen Wahn, der jetzt zur offiziellen Geschichte in russischen Schulbüchern gemacht wird. Die New York Times bringt erste Informationen über den Angriff auf die Stadt Kostjantyniwka. Der Tagesspiegel spricht mit dem  israelisch-arabischen Stammzellforscher Jacob Hanna, dem es gelungen ist, ein menschliches Embryo zu züchten. Es wird weiter über die Folgen der Aiwanger-Affäre gestritten.

Skandal-Garanten

06.09.2023. Es braucht mehr politische Teilhabe um den Rechtsruck nicht nur im Osten aufzuhalten, meint Lukas Rietzschel, der in der FAZ außerdem ein AfD-Verbot fordert. Besser wäre es, die AfD als Landesverräter im Dienste des Putinismus brandmarken, meint Richard Herzinger in seinem Blog. Die Medien sollten häufiger mal mit Handwerksmeisterinnen und Zahnärztinnen sprechen, fordert Leander Steinkopf in der Welt. Charlie Hebdo bringt einen Appell gegen Dänemarks neues Blasphemiegesetz.

Noch schwächer als die Sowjetunion

05.09.2023. Kleinere Länder lassen sich nicht mehr einfach "Einflusssphären" zuordnen - diese Lektion sollte die EU aus dem Ukrainekrieg mitnehmen, fordert die Politikwissenschaftlerin Veronica Anghel in der taz. Die Friedensbewegung hat das Nachdenken über Frieden in der Ukraine in Verruf gebracht, ärgert sich die NZZ. Ebenfalls in der NZZ skizziert die die Politologin Nina L. Chruschtschowa das postmoderne Wertedurcheinander in Russland. FAZ und taz hoffen auf ein Restitutionsgesetz für NS-Raubkunst, das die Limbach-Kommission nach zwanzig Jahren endlich fordert.

Höchster Champagner-Konsum je Kopf

04.09.2023. Die taz fragt fünf Jahre nach der Hetzjagd auf Migranten in Chemnitz: Wann beginnt endlich der Prozess gegen die Täter? Konservatismus und Ökologie sind kein Widerspruch, versichert in der NZZ der Philosoph Edward Kanterian. Die Konservativen müssten nur etwas langfristiger denken. Die FAZ erzählt, wie sich die Familie Bongo die Reichtümer Gabuns unter den Nagel gerissen hat. Die NZZ erklärt, warum die nigrische Elite Russland als Befreiungsmacht sieht. Ab heute dürfen in Berlin auch Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten, hpd sammelt dazu kritische Stimmen säkularer Muslime.

Ein Ziel, das alle vor Augen haben

02.09.2023. Rechtes Denken war in den Achtzigern keine Randerscheinung der Generation Golf, erinnern taz und Spiegel im Fall Aiwanger. Und wie ist heute mit rechtem Denken umzugehen? Ein AfD-Verbot bringt jedenfalls nichts, glaubt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer in der SZ. Sein Kollege Steffen Mau plädiert ebenda für ein gesamtgesellschaftliches Projekt. Israel steuert auf eine radikale Theokratie zu, warnt Deborah Feldman im FAS-Gespräch. Und im Tagesspiegel erzählt die in Xinjiang geborene Kasachin Sayragul Sauytbay, wie Chinas KP sie noch im schwedischen Exil drangsaliert.

Dieses imaginäre Mauerwerk

01.09.2023. Längst "überfällig" nennen die  Historiker Kornelia Kończal und Stephan Lehnstaedt im Tagesspiegel das in Berlin geplante "Deutsch-Polnische Haus". Alle freuen sich, dass der Berliner Senat die Zentralbibliothek ins Haus der Galeries Lafayette stecken will, die Berliner Zeitung fragt nach dem Preis. In der FAZ fragt die Buchwissenschaftlerin Corinna Norrick-Rühl: Was machen die Konzernverlage mit der Literatur, und was macht Tiktok mit den Konzernverlagen?