9punkt - Die Debattenrundschau
Stolpern wir durch die Dunkelheit
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Die Extremismusforscherin Julia Ebner erkennt im FR-Interview mit Arno Widmann ziemlich viele Punkte, in denen sich Islamisten und Rechtsextreme zusammenarbeiten. So bekam der Pariser Attentäter, der im koscheren Supermarkt vier jüdische Geiseln ermordete, seine Waffe von einem Identitären aus Lille. Sie teilen aber auch gemeinsame Ziele und die Technik der strategischen Polarisierung: "Islamisten und Rechtsextreme sind sich einig in: Antiliberalismus, Antimultikulturalismus, Antisemitismus, Antiindividualismus und Antifeminismus... Wer Islamismus und Rechtsextremismus nur für sich betrachtet, der versteht sie nicht. Sie spielen einander die Bälle zu. Jeder von ihnen betreibt nicht nur das eigene, sondern auch das Geschäft des anderen. Jeder Anschlag der einen Seite dient der anderen Seite als Begründung für die eigene Wut. Die richtet sich in beiden Lagern auf denselben Feind."
In der taz fürchten Jaroslaw Kuisz und Karolina Wigura, dass die polnische PiS-Partei mit ihrer Politik der Angst das Land nachhaltig vergiftet hat. Die Krise der Demokratie in Polen wird nicht mit der nächsten Wahl beendet sein: "Aus der Sicht unserer Generation offenbarte das Jahr 2015 eine tiefgreifende politische, intellektuelle und moralische Krise der liberalen Eliten. Zum ersten Mal seit 1989 befinden wir uns in einer Ära wahrer Ungewissheit. In was für einem politischen System leben wir überhaupt? Was geschieht mit der EU? Entsprechend einer fast zweihundert Jahre alten Metapher von Alexis de Tocqueville stolpern wir durch die Dunkelheit."
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Im taz-Interview mit Sabine Seifert spricht der Historiker Pap Ndiaye über Sklaverei, Gleichheitsideale und Black Studies in Frankreich, die sich sehr von denen in den USA unterscheiden: "Kein Politiker, egal welcher Partei, würde sich für eine multikulturelle Gesellschaft aussprechen. Er liefe sofort Gefahr, dass man ihn beschuldigt, für eine kommunitaristische Gesellschaft zu sein. Das ist das Schlagwort, das man in Frankreich zurzeit benutzt, um die Existenz von Gemeinschaften anzuprangern, wie sie in Großbritannien oder in den USA existieren... Gemeinschaften, die ihre eigenen Regeln haben und sich über die Regeln der Republik stellen. Deswegen gelten die USA als das Land des Kommunitarismus. Auch wenn diese Gemeinschaften dort institutionell verankert sind. Dafür gibt es hier keine Entsprechung und keine Anerkennung."
Zum bevorstehenden 1. Mai denkt Micha Brumlik in der taz über das revolutionäre Moment nach, das nicht nur stetige Revision braucht, sondern auch Konstitution: "Es war keine geringere als die Theoretikerin Hannah Arendt, die darauf hingewiesen hat, dass die amerikanische Revolution mehr als zwanzig Jahre vor der Französischen Revolution stattfand. Und dass ihrer Meinung nach die amerikanische Revolution tiefer ging, da sie nicht nur die 'Befreiung von Unterdrückung', sondern vor allem auch die Institutionalisierung von Freiheit anstrebte - 'Constitutio Libertatis'."
Alex Rühle und Jörg Häntzschel eröffnen in der SZ eine neue Serie zum Anthropozän, in dem der Mensch zu einer geologischen Naturgewalt geworden ist: "Anthropozän ist nicht einfach ein neues Wort für 'ökologische Krise'. Natürlich fordern sowohl die Anthropozän-Vordenker als auch die Umweltschützer ein Ende der Naturzerstörung, ein radikales Umdenken. Doch die Anthropozän-Idee schließt eine Kritik der Umweltdebatte mit ein. Mit Begriffen wie 'Nachhaltigkeit' halte diese letztlich an der Vorstellung fest, die Rückkehr zu den alten Verhältnissen sei möglich. Und sie verhindere, der neuen Realität ins Auge zu sehen, in der die Natur nicht mehr vor dem Menschen 'geschützt' werden kann, weil er bereits so tief in sie eingegriffen hat, dass viele Prozesse längst irreversibel sind. Wie sollte man noch von unberührter Natur sprechen, wenn selbst auf Henderson, einem der entlegensten Atolle der Welt, 5000 Kilometer entfernt von der nächsten menschlichen Siedlung, täglich mehrere Tausend Stück Plastikmüll angeschwemmt werden?"