9punkt - Die Debattenrundschau
Lügen und Geheimnisse
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Politik
In der FAZ blickt der israelische Schriftsteller David Grossman mit Entsetzen auf die Reform, aber der Weg dorthin war irgendwie auch ein heilsamer, könnte man seinen Artikel lesen: "Es rollt ein Prozess ab, den zu beschreiben uns noch die Worte fehlen. Deswegen flößt er einem so viel Angst ein. Möglicherweise wird man ihn irgendwann in der Zukunft als den Beginn des Auflösens gefährlicher Versteinerungen in der israelischen Gesellschaft erkennen, vorläufig jedoch spült er Lügen und Geheimnisse, komprimierte historische Kränkungen ... an die Oberfläche." Dazu gehört auch, ausgelöst durch den Streik der israelischen Piloten, die Erkenntnis, dass Israels Sicherheit tatsächlich von diesen paar hundert Piloten abhängt: "Da ist es doch wohl höchste Zeit für ein Friedensabkommen mit unseren Nachbarn, unseren Feinden. Damit wir uns nicht an die Herausforderung eines weiteren Krieges wagen. Jetzt hat sich klar herausgestellt, was einige von uns seit Jahren wissen: Ein Friedensabkommen liegt im höchsten Sicherheitsinteresse Israels."
Europa
Friedrich Merz hat im ZDF-"Sommerinterview" erklärt, auf kommunaler Ebene müsse man auch mal mit gewählten AFD-Vertretern zusammenarbeiten. Riesenaufschrei bei der Opposition. Die taz holt heute mit ihrem Titelbild gleich mit dem ganz großen Hammer aus: "Merz zündelt", lautet die Überschrift. "Es stimmt zwar", bekennt Sabine von Ordre in der taz: "Wenn AfD-Politiker zu Landräten oder Bürgermeistern gewählt werden, können sich die anderen Parteien einer Zusammenarbeit nicht gänzlich verweigern. Doch statt auf das Problem hinzuweisen, erklärte Merz eine Kooperation mit der AfD in den Kommunen kurzerhand für legitim".
Es hat in der "Vergangenheit in Ostdeutschland immer wieder Interaktionen mit der AfD in Kommunalparlamenten gegeben, beispielsweise in Kreistagen. Das betrifft alle Parteien und lässt sich kaum vermeiden", erklärt auch der Soziologe und Rechtsextremismus-Experte David Begrich im Tagesspiegel-Gespräch mit Maria Fiedler: "Auch von SPD, FDP, Linken oder Grünen gibt es gemeinsames Abstimmverhalten mit der AfD. Je kleiner der Raum, desto enger das Verhältnis zur AfD. In einer Kleinstadt oder im Ortschaftsrat kennen sich die Leute aus der Schule, aus dem Sportverein oder aus der Kirchengemeinde. Dazu kommt, dass auf kommunaler Ebene oft das Verständnis vorherrscht, das, was man tut, sei ja keine Politik, man regele ja nur die Dinge für die Bürger - Stichwort Fußgängerüberweg oder Sportplatz. (…) eine solche Zusammenarbeit birgt immer die Gefahr, dass sich die Normalisierung der AfD verstärkt."
Vor 25 Jahren zog die Regierung von Bonn nach Berlin, auch weil man näher an den Menschen in den neuen Bundesländern sein wollte, erinnert Josef Engels in der Welt. Aber: "Heute weiß man: Die einzigen Leute aus dem Osten, deren Bedürfnisse man in Berlin nach 1999 wirklich ernst nahm, waren Gaslieferanten aus Russland. Weiter entfernt von jenen Thüringern, die AfD wählen, könnte Bonn auch nicht sein. Vielleicht hätte man dort sogar mehr Nachsicht für das Gefühl der Demütigung und Abgehängtheit. Denn wenn es eine Stadt im Westen gibt, deren Selbstverständnis als Folge der Einheit so stark erschüttert wurde wie die Orte in Mitteldeutschland, dann ist es wohl die Stadt am Rhein", meint Engels auch mit Blick auf die Baudebakel der Stadt: "Etwa im Falle der Posse um das 'World Conference Center Bonn' oder des geradezu tragisch gescheiterten 'Festspielhauses Beethoven', das die drei in Bonn beheimateten Dax-Konzerne Telekom, Post und Postbank der Stadt zum 250. Geburtstag ihres berühmtesten Sohnes spendieren wollten. Stattdessen wird jetzt seit Jahren die alte Beethovenhalle unter stets größer werdenden Kosten renoviert."
Ideen
Gesellschaft
"Fahrlässig" nennt Claudia Schwartz in der NZZ Saba-Nur Cheemas Bericht zu Muslimfeindlichkeit in Deutschland (Unsere Resümees), nicht zuletzt weil der Bericht innermuslimische Kritik von Stimmen wie Necla Kelek, Hamed Abdel-Samad, Seyran Ates oder Ahmad Mansour einfach ausspart: "Man nennt es Wissenschaft, bewegt sich aber längst in der eigenen Blase. Im Expertenrat sitzt eine Vertreterin der Bertelsmann-Stiftung, die in einem 2017 veröffentlichten Bericht die Integration der Muslime in Deutschland in den schönsten Farben malte und etwa behauptete, Muslime seien besser in den Arbeitsmarkt integriert als die Mehrheitsgesellschaft. Wo kommt dann aber all das hier beschworene Misstrauen gegenüber einer angeblich so perfekt integrierten Minderheit her? (…) In Deutschland sind unter der Ampelregierung im Zeichen der Identitätspolitik bis zur Halbzeit ein Queer-Beauftragter, ein Beauftragter gegen Antiziganismus, eine Beauftragte für Antirassismus und eine Beauftragte für Antidiskriminierung eingesetzt worden. Einer geht noch, sagt man sich und fordert in diesem Bericht einen Beauftragten gegen Muslimfeindlichkeit, samt Sachverständigenrat und Beratungs- und Meldestellen."