9punkt - Die Debattenrundschau
Tumult und Scheitern
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Ideen
Europa
In der Financial Times erinnert sich Simon Kuper an seine Zeit in Oxford in den achtziger Jahren, als Boris Johnson, Michael Gove und Jeremy Hunt die großen Zampanos in jenem Debattierclub waren, der verlässlich die britischen Premierminister hervorbringt: "Die meisten Mitglieder der Union waren nicht besondern an politischen Linien interessiert. Jeder, der eine bestimmte Politik durchsetzen wollte, die sich auf das studentische Leben auswirkte, engagierte sich in der eigenständigen Oxford University Student Union oder im Common Room seines Colleges (JCR). Das zog meistens Labour-Anhänger an. Dave Miliband leitete das Wohnungskomitee, während Yvette Cooper, Eddie Balls und Ed Miliband JCR-Präsidenten waren. Die Union dagegen setzte auf Debattentalent und Ehrgeiz ohne Anliegen. Alle acht Wochen wählte die Union einen neue Vorsitzende, Sekretäre und Schatzmeister. Die Hacks, wie Studentenpolitiker genannt wurden, zogen durch die Colleges und organisierten sich Stimmen von den einfachen Studenten."
Aber was, wenn Boris Johnson gar nicht der Chauvinist, der Demagoge, der Populist wäre, zum dem ihn deutsche Kommentatoren einhellig stilisieren? In der taz ist Dominic Johnson von der Hochnäsigkeit und dem Schematismus genervt, mit dem deutsche Kommentatoren den britischen Tory-Politiker abqualifizieren: "Ein Trump am Ärmelkanal - der linksliberale Konsens, der die EU grundsätzlich für die Quelle alles Guten in Europa erklärt, hat sein Urteil längst gefällt, und da kann Johnson nichts machen. Man baut ein Zerrbild von ihm auf, und wenn er dem Klischee nicht entspricht, weil es nicht stimmt, nennt man ihn einen Opportunisten. Man muss Boris Johnson nicht für den bestmöglichen Premierminister Großbritanniens halten, um diese Art von Oberflächlichkeit und Vorurteil als Bankrotterklärung der europäischen Öffentlichkeit zu erkennen."
Ähnlich sieht das Jochen Buchsteiner in der FAZ: "Aus Sicht Brüssels und auch vieler Briten haben die politischen Entwicklungen und die unerfreulichen Verhandlungen illustriert, dass ein Abschied von der Europäischen Union in Tumult und Scheitern enden muss."
In der FAZ bemerkt Bülent Mumay, das sich Präsident Recep Tayyip Erdogan im Istanbuler Wahlkampf ungewohnt zurückhaltend gebärdet: "Früher hatte Erdogan getönt: 'Wer Istanbul verliert, verliert auch die Türkei', er hätte den Fortbestand des Staates mit den Kommunalwahlen verknüpft, vor der Neuwahl an diesem Sonntag dagegen erklärte er: 'Wir stehen vor der Wiederholung einer Bürgermeisterwahl in Istanbul. Es geht lediglich um den Bürgermeisterposten, um einen vordergründigen Wechsel also.' Auf Erdogans bislang veröffentlichtem offiziellen Programm findet sich keine einzige Wahlkampfkundgebung in Istanbul."
Internet
Medien
Kulturpolitik
Der Welfenschatz wird jetzt vor einem amerikanischn Gericht verhandelt werden, berichterstattet Patrick Bahners in der FAZ. Dafür haben die Erben des Händlerkonsortiums, von denen der deutsche Staat einst die Goldschmiedearbeiten aus dem Braunschweiger Dom erwarb, den Kauf als Vorbereitung zum Völkermord deklariert: "Wollte der preußische Ministerpräsident Hermann Göring, indem er dem Konsortium die 42 Werke abkaufte, für die es seit 1929 vergeblich Käufer auf dem Weltmarkt gesucht hatte, die Lebensgrundlage der jüdischen Kunsthändler zerstören? Indem die Bevollmächtigten der Kaufinteressenten versuchten, die Verkäufer herunterzuhandeln, hätten sie nach dieser Konstruktion dasselbe getan wie General Lothar von Trotha, der 1904 das Volk der Herero in eine wasserlose Wüste treiben ließ. Dem Drücken des Kaufpreises war allerdings eine objektive Grenze gezogen: Der Welfenschatz befand sich in einem Banksafe in Amsterdam."
Alex Rühle singt in der SZ Münchens scheidendem Kulturreferenten Hans-Georg Küppers eine Eloge: "Nun kann so Ermöglicher-Zeug erst einmal jeder sagen. Der Witz ist: Küppers hat anscheinend zwölf Jahre lang genau das gemacht: zugehört, ermutigt, Überzeugungsarbeit geleistet. Es muss im ganzen Kulturreferat ausnahmslos runde Tische geben, so reibungslos ging dort das meiste vonstatten."
Felix Stephan berichtet ebenfalls in der SZ vom Kultursymposium Weimar, das sich der Verteidigung der Kunstfreiheit in Zeiten des Demokratiezerfalls widmete. Der amerikanische Judaist David N. Myers verteidigt in der FAZ seinen Kollegen Peter Schäfer, der nach politischem Druck als Direktor des Jüdischen Museums Berlin zurücktreten.
Gesellschaft
Im taz-Interview mit Doris Akrap blickt die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen auf ihre Arbeit zurück und auf all die Entwicklungsromane, die sich vor Gericht entfalten: "Was mich immer fasziniert hat: Das Recht ist ein scheinbar starres Gebilde aus Paragrafen, Regeln und geregelten Ausnahmen. Und dann erleben Sie die Geschichten der Angeklagten, Zeugen und Opfer und denken: Dafür kann es doch gar keinen Paragrafen geben. Aber das Recht ist in der Lage, das alles so zu sezieren und zu analysieren, dass am Ende meist ein Urteil ergeht, das gar nicht so verkehrt ist."